TEIL VIII – Tag 1 (nach offizieller Bestätigung der Corona-Infektion)

Tag 1 (nach offizieller Bestätigung der Corona-Infektion)

Es ist kurz nach vier Uhr an diesem Freitagmorgen. Im Fernsehen haben sie von aufziehendem Regenfeld gesprochen und tatsächlich habe ich letzte Nacht vor dem Einschlafen gegen Mitternacht ein Plätschern gehört. Nein, es ist nicht der Rücken, der mich nach unten auf den Sessel treibt. Die Schmerztablette scheint noch immer anzuhalten. Oder die Gliedmaßen und Muskeln haben resigniert und aufgegeben, sich zu beschweren. Ingrid hat diese Nacht ja das erste Mal wieder neben mir gelegen. Es war ein Versuch. Sie meinte, wenn du dauernd hustest, ziehe ich wieder um ins Nebenzimmer. Es klang zwar wie eine Drohung, war aber nur eine gesunde Sicht auf unsere eigene Sicherheit. Wir selbst sind uns im Unklaren darüber, ob eine gegenseitige Berieselung mit kleinen infizierten Tröpfchen unsere aktuelle Lage verschlechtert. Und die Genesung hinauszögert. So eine Art Pingpong Effekt. 32 Monate Corona und wir wissen: Nichts. Nein, das wäre unfair. Wir haben diesen genialen Impfstoff und da muss man dem demokratischen Staat danken. In einer Diktatur, in der Gewinnoptimierung ganz hinten steht, wäre die Entwicklung eines Impfstoffes und die Gesundheit der Bevölkerung eher Nebensache gewesen. Dort hätten sich die Herrscher wahrscheinlich nur Panic-Rooms oder Schutzbunker mit Swimmingpool, Sauna und Sterne-Restaurant gebaut und gewartet, bis die Corona-Dauerberieselung vorbei ist. Aber hätte, hätte, Fahrradkette. Und das es auch andere Gründe gibt, die Bevölkerung zu schützen, sieht man in China.

Ich mache mir Gedanken um meinen Schatz. Sicher hat Ingrid die letzten Tage im Ikea-Bett nicht besonders gut geschlafen. Für Schlafkomfort ist das schwedische Möbelhaus nicht sonderlich bekannt. Wohl eher für Pressspan-Falttechniken. So viel zur schon genannten Fürsorge meiner Ehefrau. Ich habe begonnen, Nasenspray zu nehmen. Stand Schnupfen nicht auf der Tritt-nicht-auf-Liste bei Corona? Gott, war das ein Zinnober im Jahr 2020. Jeder Pups war ein Verdacht. Und jetzt haben wir uns selbst mit dem Virus angesteckt. Ich habe damals tatsächlich nicht mehr an ein gutes Ende für die Weltbevölkerung geglaubt. Gut, bisher ist ja auch kein Ende und insbesondere kein Gutes absehbar. Aber das Leben blieb für die meisten bisher ertragbar. Als gottesfürchtiger Katholik und ehemaliger Messdiener, mit leichter Vernachlässigung des Glaubens in den letzten Jahren, hatte ich das Beten wieder angefangen. Plötzlich verliert man jeglichen Halt. Auch starke Charaktere. Und ich habe mich stets, vor allem was den Familienzusammenhalt angeht, als stark und zielstrebig angesehen.

Ich bin gerade aus dem gemeinsamen Schlafzimmer geschlichen und habe leise die Tür geschlossen. Ingrid ist nicht wach geworden. Prima. Soll sie nun noch etwas Schlaf bekommen. Ich hatte die letzten Tage genügend davon. Wenn auch nicht immer den Besten. Heute vor einer Woche begann die Krankheit. Wann wird sie beendet sein? Ich denke an den langen Covid. An Menschen, die trotz Impfung schon mehr als eine Infektion hatten. Ich bin 1954 geboren und wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, wird mir eines klar, uns hat es damals an nichts gemangelt. In den 60er-Jahren war das Angebot in den saarländischen Ladenregalen eher mickrig. Aber die Grundnahrungsmittel waren stets verfügbar und dazu warmes Essen. Marmelade sorgte für süßen Brotaufstrich. Manchmal tat es auch Zucker auf einem Butterbrot. Streusel waren unser kindliches Highlight. Streusel ohne Kuchen. Nur Butter, Mehl und Zucker. Verklumpt und gleich vernascht. Hin und wieder konnte ich meine Mutter noch spät am Abend davon überzeugen, dass ihr Söhnchen Verlangen nach etwas Süßem und speziell auf Streuseln hatte. Sie war eine sehr liebe Mutter. Heute stehe ich abends beim letzten Kaffee vor unserem Schrank mit zahlreichen Süßigkeiten und frage mich, was es denn heute sein darf. Diese dekadente Entscheidungsnot hatten meine liebe Schwester Elke und ich als Kinder nicht.

Beim Aufstehen spüre ich Schluckbeschwerden. Auch habe ich das letzte Bier genau vor einer Woche getrunken. Auch keine anderen alkoholisches Getränk bisher. Das ist es, was Corona aus den Menschen macht. Nicht nur Entzug von Kontakten. Nein, auch das Reinheitsgebot kommt zu knapp. Es gibt aber auch Vorteile durch eine Corona-Infektion. Man entgiftet den Körper, so die Presse. Gestern, beim Testcontainer stand ein Mann und rauchte, während er auf das Ergebnis wartete. Was bin ich froh dass ich 1986 nach jahrelanger Raucherei, aufgehört habe. Ich bin mir sicher, Ersticken gehört nach Verbrennen auf den zweiten Platz der Todesursachen, denen ich auf keinen Fall erliegen möchte. Als ob man sich das aussuchen könnte. Aber man kann ja Vorsorge treffen. Und das Rauchen aufgeben. Ich als Moral-Apostel. Da bin ich sicher total der Falsche. Es ist 4 Uhr 30. Ich überlege die Kaffeemaschine einzuschalten. Aber das Geräusch des Mahlwerks könnte Ingrid wecken und sicher ist es gesundheitlich nicht förderlich, so früh schon Kaffee zu genießen. „Mach dir keine Sorgen, es wird schon weitergehen“ singt Marius im Song „Es geht mir gut“. Aber wie? Wieder Dauer-Skepsis gegen jeden, der dir zu nahe kommt? Mit einigen Einschränkungen, wie Maskenpflicht oder auch Änderung der Ladenöffnungszeiten, die zusätzlich dem Energiesparen dienen, kann ich leben. Aber die Schulkinder wieder aus der Schule zurück ins Home-Learning zu schicken, da bin ich strikt dagegen. Diese Auswirkungen hat man auch bei unserem Enkel bemerkt. Aber wie macht man es richtig? Man hat Spahn und jetzt Lauterbach oft angegriffen. Zum Teil schlimm und weit unterhalb der Gürtellinie. Ich persönlich finde es angenehm, dass mir gewählte Vertreter die schweren politischen Entscheidungen abnehmen. Auch wenn sich später vielleicht herausstellt, dass man es hätte besser machen können. Als Vater von zwei Kindern steht man zusammen mit der Ehefrau oft vor Fragen, die die Zukunft der Familie beeinflussen und verändern. Kaufen wir das Haus? Soll die Tochter in diese weiterführende Schule oder in eine andere? Ich finde, der beschissenste Job in den letzten Jahren ist es doch Politiker zu sein, oder? Man kann doch wohl von Glück sagen, dass uns Corona mit einer halbwegs intakten Regierung überraschte. Andere Volksvertreter haben sich bei Ausbruch der Seuche sicher gleich in die DomRep abgesetzt. Ich mutmaße nur! Am Geld kann es doch nicht liegen, wenn man in die Politik geht. Die Minister haben doch kaum Zeit, ihre Euros für einen Urlaub auszugeben, schon gibt es wieder einen politischen Grund, sie vom Swimmingpool zurückzupfeifen. Aber was hat das mit meiner Corona-Erkrankung zu tun? Keine Ahnung. Ich denke mal einfach nicht an ein neues Buchprojekt oder an Werbung. Habe ich schon davon berichtet, dass ich Hamburg-Krimis schreibe? Nein, Quatsch! Das ist nicht das Thema. Ich gehe mir mal eine Wolldecke holen.

Bis kurz vor neun Uhr hat Ingrid geschlafen. So konnte sie etwas vom entgangenen Schlaf nachholen. Ich dagegen bin gegen sechs am Morgen eingenickt und war schon um sieben wieder wach. Die Couch ist trotz Kopf und Beinverstellung kein Ersatz für eine Federkernmatratze plus Topper. Ingrid fühlt sich wie neugeboren. Ihr schauspielerisches Talent ist mir bislang noch gar nicht aufgefallen. Man sieht ihr die abklingende Infektion im Gesicht und an den Augen an. Sie möchte mir Hoffnung auf meine baldige Genesung machen. Das macht tatsächlich Sinn. Ich kann das gut brauchen. Rumliegen bringt nur die Rückenbeschwerden zurück. Was mich gerade besonders nervt, ist die verstopfte Nase. Das mochte ich noch nie und hatte früher stets Nasenspray dabei. Zum Glück kam es nicht oft zum Einsatz. Soll bei dauerhaftem Sprühen ungesund sein für die Nasenscheidewand. Braucht man die eigentlich? Ohne Scheidewand muss es doch auch funktionieren. Man hat mehr Zug, wie beim Kamin. Nein, war nur Spaß! Die Frage ziehe ich zurück. Ingrid hat mir, um Schaden abzuwenden, einen Spender mit Meersalz-Gedings hingestellt. Ich habe es mehrfach in die Nasenlöcher gesprüht. Aber da kann ich auch an einer Kornblume riechen. Linderung bringt das Drogerieprodukt nicht. Nach dem Frühstück testet sich Ingrid frei. Mit diesen Billigtests. Erst zeigt die Kassette lange nichts an und ich glaubte schon nicht mehr an eine Reaktion. Dann kommt im Schneckentempo ein dünner roter Strich um die Ecke. Als ob er erst noch woanders etwas zu tun hatte. Diese Billig-Tests taugen nichts. Noch zwei, dann sind sie aufgebraucht. Ich kaufe später welche, die schneller reagieren. Man möchte ja Gewissheit und keine Schätzungen. Wie „Also ich denke, es könnte sich um …!“ Auch keinen Pi mal Daumen-Wert von dem man nicht weiß, ob man ihn ernst nehmen soll. Ich wasche meine Haare. Das ist nötig. Sicher erwarten wir keine Gäste und der Postbote kommt eh immer seltener. Und wenn, stellt er das Paket in den Carport und rennt um sein Leben. Na ja, die haben es nicht einfach. Nun ist es 48 Stunden her, seit mein PCR-Test durchgeführt wurde. Da kann man noch nicht von mir erwarten, dass ich die Treppe hochspringe. Ingrid telefoniert mit Suzy. Später mit Oma Conny, die hat heute Geburtstag, 81 Jahre. Möchte ich so alt werden? Ich bin mir nicht sicher. Man entgegnet dann: Wenn man noch rüstig ist, warum nicht!  Aber gerade macht mir die aktuelle Welt nicht gerade Lust auf ein hohes Lebensalter. ,Schau ma mal‘, würde der Bayer sagen und Söder muss es ja wissen. Ich spüre, dass die vielen Überlegungen zum Corona-Tagebuch und die lange Zeit am Tablet mich ermüden. Dazu machen sie mich nervös. Ich verabschiede mich hoch in mein Bett, möchte etwas fehlenden Schlaf nachholen. Aber es klappt nicht mit dem Einschlafen. Zu viel geht mir durch den Kopf. Schon bald bin ich wieder unten.

Renne auf der Terrasse hin und her. Das Betonpflaster ist strapazierfähiger als das Wohnzimmerparkett. Die Welt dort draußen läuft weiter. Egal was passiert. Und das ist gut so.
Später schaue ich fern. Kiel und Darmstadt trennen sich am Abend 1:1. Die beiden 2. Ligavereine haben mich gut unterhalten. Ingrid hat dauernd, gefragt ob das Fußballspiel noch lange dauert und wir dann endlich etwas Anständiges anschauen würden. Wieso anständig. Unanständig wäre auch doch o. k. Aber ich fühle mich noch nicht. Anschließend schauen wir noch Jürgen Vogel in ,Jenseits der Spree‘. Eine Krimi-Serie. Und keine Schlechte. Kann man sich gut anschauen. Sicher besser als das, was uns am Sonntag bim Tatort aus Münster erwarten wird. Ingrid und ich mögen die beiden verbeamteten Clowns Börne und Thiel nicht. Wenn schon Comedy, dann richtig. So wie bei den Supernasen oder bei Zwei wie Pech und Schwefel. Waren zwei nicht immer doof? Tom und Jerry, Dick und Doof, Pat und Patarchon!
Um zehn liege ich geduscht und alleine im Bett. Es geht mir fantastisch.

Corona hat auch seine guten Seiten: Man(n) hat viel Platz im Bett.

Morgen geht es weiter.