Corona-Tagebuch komplett

Tag 7 (vor dem offiziellen Corona-Testergebnis)

Heute ist Freitag und am morgigen Samstag planen Sohn Jan und Schwiegertochter Chao einen Besuch bei uns in Bad Oldesloe. Ingrid erklärt mir beim Frühstück, sie fühle sich nicht ganz wohl. Eine äußerst seltene Offenbarung. In der nächsten Zeit lenkt sich meine liebe Gattin mit der Planung des familiären Abendessens ab. Ich habe Oktoberfestbier besorgt. Jan, Chao und ich werden es uns schmecken lassen. Ingrid ist kein Bier-Fan. Für sie steht französischer Crémant bereit. Ja, es geht uns gut! Nachmittags machen Ingrid und ich einen Spaziergang. Wie immer laufe ich zu schnell und sie beschwert sich. Und wie so oft frotzele ich , das ich über zwanzig cm größer sei und bei ihrem Tempo umfallen werde. Aber dieses Mal klingt ihre Beschwerde und das drum herum anders. Sie schnauft! Dabei sind wir nicht im Gebirge unterwegs. Ich spüre, da braut sich tatsächlich etwas zusammen. Abends, vor dem Fernseher, taucht sie plötzlich mit einem Eimer auf. Ich weiß, was das bedeutet. Nach 45 Jahren Ehe bemerkt man Veränderungen am Partner schon, bevor sie eintreten. Schweigend stellt sie das graue Plastikgefäß vor die Couch. Der Eimer fasst zehn Liter. Mir schaudert! Ich frage nicht nach. Ingrids Blick sagt mir alles.

Als ich meine Frau im Jahr 1972 kennenlernte, hatte sie, nach Realschulabschluss, gerade im saarländischen Völklingen eine Lehre zur Arzthelferin begonnen. Einen Beruf, der zu ihrem großen Herzen und ihrer riesigen Fürsorgebereitschaft passte. Obwohl unsere spätere Hochzeit verhindert hat, dass sie ihr eigentliches Ziel, MTA zu werden, dafür aufgeben musste. Die Schuld daran habe ich abgearbeitet, denke ich.

Wir schauen die Serie ,Goliath‘ mit Billy Bob Thornton. Thornton, alias Billy McBride, kämpft darin als Anwalt für Gerechtigkeit. Der Eimer vor der Couch stört etwas die Atmosphäre. Ingrid greift nach einer Wolldecke. Es wird ernst. Als noch eine Schachtel Papiertaschentücher auf dem Couchtisch landet und Ingrid regelmäßig davon gebraucht macht bin ich mir sicher, sie wird tatsächlich krank.

Arzthelferinnen haben sich den Patienten und deren Wohl verschrieben.

Paragraf 1: Arzthelferinnen werden nicht krank.

Paragraf 2: Sollten Sie tatsächlich krank werden, tritt automatisch Paragraf 1 in Kraft.

Ingrid niest und schnupft und entschuldigt sich mit belegter Stimme für eine aufkommende Grippe. Der Wechsel von der gesunden zur kranken Ehefrau hat sich innerhalb von Minuten vollzogen. Ich spüre selbst erste Beschwerden. Ich gebe zu, ich bin ein kleiner Hypochonder, steigere mich also gerne in etwas Derartiges hinein. Mir fällt ein alter Witz ein:

Krankenschwester zum Arzt: „Der Simulant von Zimmer 7 ist gestorben!“

Arzt: „Jetzt übertreibt er aber!“

Ingrid meint: „Corona ist es nicht, eher eine Grippe!“ Die Aussage klingt wie der Plan des Insassen eines Hochsicherheitstraktes aus dem Gefängnis fliehen zu wollen.

Zum ersten Mal ist das verhängnisvolle C-Wort gefallen: CORONA!

Der Eimer wandert mit ins Schlafzimmer. Zum Glück ist es bisher nicht zum Äußersten gekommen. In der Nacht, bevor ich selber einschlafe, höre ich Ingrid beim Atmen zu.

Ingrids Atmung ist extrem anders als sonst. Im zwei Sekunden Takt atmet sie ein und aus. Das beängstigt mich. Atmung ist nicht unwichtig. Als kleiner Junge, wenn ich nachts aufwachte, konnte ich nur wieder einschlafen, wenn ich mich vergewissert hatte, dass meine Eltern auch atmeten. Die dünnen Wände im Überherrner Bungalow ließen das zu.

Fernsehbilder aus Bergamo im Jahr 2020 wechseln in meinem Kopf mit Corona-Statistiken und endlosen Pressekonferenzen von Spahn und Wieler. Die ganze Situation zieht mich hinunter. Um meine Lebensqualität wieder über die kritische 50-Prozent-Marke zu bekommen, entschließe ich mich noch in der Nacht, die Ibanez SC-420 zu kaufen, die in Kleinanzeigen angeboten wird. Die gleiche piano-schwarze E-Gitarre habe ich mit großer Freude von 2003 bis 2006 bei der Leeraner Band „Blue Sound„ gespielt.

Tag 6 (vor dem offiziellen Corona-Testergebnis)

An diesem Samstagmorgen geht es Ingrid nicht besser. Das Gegenteil ist der Fall. Mir ist klar, sie hat zu ihrer Infektion kaum und wenn, dann schlecht geschlafen. Das entzieht dem Körper weitere wichtige Kräfte. Sie selbst streitet eine Verschlechterung ihres Zustands vehement ab. Ich hole, wie sonst auch, zwei Tassen Kaffee ans Bett. Wir schauen fern. Sie trinkt nur wenig von der schwarzen Brühe. Den Rest lässt sie stehen. Das gab es, soweit ich zurückdenken kann, in unseren gemeinsamen Ruhestandstagen nie zuvor. Auch mir fällt das Atmen etwas schwerer. Einbildung? Wir entschließen uns, den Besuch der Kinder abzusagen. Zu schwer wiegt der Gedanke daran, sie vielleicht anstecken zu können. Ingrid liegt schon früh am Morgen auf dem Sofa, hat die Liege-Funktion hochgefahren und sich in eine Wolldecke eingewickelt. Hunger hat sie auf meine Nachfrage hin nicht. Sie ist eingeschlafen. Leise schleiche ich mich aus dem Haus und gehe einkaufen. Nicht meine Lieblingsbeschäftigung, aber das nützt jetzt nichts. Verhungern wollen wir ja nicht. Brot ist im Angebot, 1,11€ der Laib. Sieht auch nach Brot aus. Ich greife zu. Mir ist bewusst, dass der Kauf nicht Ingrids Zustimmung treffen wird. Sie mag die Brote vom Discounter nicht. Doch da muss sie durch. Ich kaufe noch ihren Lieblingsjoghurt, Froop. Und Grieß-Pudding (ich liebe Grießpudding). Dazu ein Wiesn-Hendl, obwohl das Münchner Oktoberfest schon vorüber ist. Im Laden, an der Kassierer losen automatischen Kasse, gebe ich aus Unwissenheit die falsche Brotbezeichnung ein (warum können Brote nicht A,B,C heißen, sondern Roggenmischbrot nach Herzogenauracher Art oder Limburger Mischbrot Kaiser Wilhelm?) Der dämliche Automat möchte mir für den Laib 2,79 € statt 1,11 € abnehmen. Ich überlege, ob es die Differenz von 1,68 € wert ist, den Einkauf von einer Angestellten annullieren zu lassen und das Brot danach neu einzugeben. Den wartenden Kunden hinter mit sehe ich an, dass ihnen die Variante, bei der ich knapp zwei Euro einbüßen würde, lieber wäre. Ich entscheide mich fürs Sparen und halte Ausschau nach Unterstützung. Zum Glück kommt aus den dunklen Gängen des Ladens eine uniformierte Verkäuferin auf mich zu. Ich bitte sie um Hilfe. Sie erklärt genervt, sie sei zwar noch nicht im Dienst, wolle aber trotzdem helfen. Sicher haben die ungeduldigen Blicke der wartenden Käufer ihre Entscheidung stark beeinflusst. Die Hilfsaktion läuft verbal etwas aus dem Ruder und ich bin mir sicher, dass ich ihr den Arbeitsbeginn wesentlich vermiest habe. „Tut mir leid, junge Frau. Ich habe eine kranke Ehefrau zu Hause“, entschuldige ich mich gedanklich und zu spät auf dem Rückweg. Natürlich ist dies nur eine Ausrede.Die Kinder melden sich. Möchten wissen, wie es der Mutter geht. Ingrid gibt ein kurzes Statement ab. Ich übernehme das Telefon. Die Gretchenfrage der Tochter, ob ihre Mutter schon einen Corona Test durchgeführt hat, kann ich nicht bestätigen. Noch immer hat Ingrid Hoffnung auf eine der früheren legendären Grippe-Erkrankungen.

Am Abend entschließt sich meine Gattin, einen Corona-Test durchzuführen. Wir sind sehr unerfahren damit. Bisher von jeglicher Corona Erkrankung verschont, hatten wir tatsächlich nie Erfahrungen mit einem PCR-Test. Auch unsere durchgeführten Antigen-Tests kann man an den Fingern einer Hand abzählen. Glück gehabt? Kann man Glück haben? Oder ist es Schicksal, wenn man überlebt oder von irgendetwas Schlimmen verschont bleibt. Wir lesen uns durch die Kleinstschrift der Anleitung. Sie ist trotz Lesebrille kaum zu dechiffrieren. Ob das Absicht ist? Oder schon ein Teil der bundesweit von der Ampel-Koalition angestoßenen Energieeinsparung. Meine Idee: Die Aufregung über das Unvermögen, die Worte zu entziffern, bringt uns zur Weißglut. Was wiederum der Wohnzimmer-Temperatur zu Gute kommt. Nein, ich erkenne keinen plausiblen Grund. Obwohl liebe Pharmaindustrie: Müssen tatsächlich ein Dutzend Sprachen auf den Beipackzettel?) Die aufgemalten Symbole sind nur begrenzt hilfreich. Irgendwie fehlt mir auch jegliche Motivation, mich dabei einzubringen. Auch der Gedanke, die Vergrößerungsfunktion des Handys zu nutzen, fällt mir nicht ein. Endlich, Ingrid hat fertig (gelesen). Sie schiebt sich zögerlich und eher lustlos die Q Tip-ähnliche Stange in die Nase. Für meine Verhältnisse gibt sie zu früh auf. Sie packt das Teil in die Flüssigkeit. Drei Tropfen, die zur Wahrheit führen. O’ zapft is!

Es erscheint auf der bestimmt aus umweltrecycelten Baby-Windeln hergestellten Testkassette nur ein roter Balken. Ingrid erklärt sich euphorisch und voller Erleichterung für Corona frei. Ich plädiere für Corona. Der Balken steht auf dem C! C, wie Corona, denke ich. Bei Überprüfung stellt sich heraus, C steht für Control. Ingrid hat recht. Zumindest was dieses Ergebnis angeht, ist eine Corona Infektion bei ihr momentan noch nicht nachgewiesen. Später stellt sie fest, dass die Corona-Testpackung schon vor einem Jahr abgelaufen war. Wir ergeben uns in unser Schicksal.

Ich packe das Wiesen Hendl in den Backofen. Habe großen Hunger. Ingrid nicht. Sie probiert später einige der beigelegten Kartoffeln, gibt aber schnell auf. Ungewöhnlich. Wir packen uns zurück auf die Couch. Mein Rücken schmerzt schon vom Liegen. Die seit Wochen und Monate schlechte Nachrichtlage der Tagesschau trägt nicht zur Reduzierung unserer Ängste bei. Zum Glück hat Billy Bob Thornton die Verhandlung gewonnen und zur Wahrheitsfindung wesentlich beigetragen. Für uns steht das noch bevor.

Ingrid reaktiviert das Gästebett in ihrem Nähzimmer und wandert aus. Alleine gelassen fühle ich mich noch unwohler als mit der kranken Ehefrau an meiner Seite. Es erinnert mich etwas an meinen einsamen Krankenhausaufenthalt 2019 wegen des Verdachts auf Schlaganfall. Zum Glück waren die drei Tage auf der Stroke Unit unbegründet.

Tag 5 (vor dem offiziellen Corona-Testergebnis)

In der Nacht von Samstag auf Sonntag haben wir beide schlecht geschlafen. Am Morgen zeigt ein weiterer Corona-Test (dieses Mal noch haltbar bis 2024) zwei rote Balken an. Ingrid hat Corona. Über zwei Jahre lang haben wir uns dort mit Masken geschützt, wo es verlangt wurde oder notwendig war. Wir haben Kontakte eingeschränkt und ein Weihnachtsfest 2020 verbracht wie nie zuvor. Es fehlte dieser Glanz und die Freude im Herzen, die unsere Familie die letzten fünf Jahrzehnte an Heiligabend und den beiden Weihnachtstagen sonst zusammen erlebt hat. Wir hatten es irgendwie geschafft, seit Ausbruch von Covid-19, einer Infektion zu entgehen. Und jetzt, trotz oder nach drei Impfungen hat es auch uns erwischt, dieses dämliche und für manche sogar todbringende Virus. Ich habe immer Angst davor gehabt, dass es so weit kommt. Immer gehofft, wir blieben verschont. Aber es sollte nicht sein. Ingrid und ich sitzen am Esstisch und schauen sprachlos auf die beiden dünnen roten Linien. Fragen uns, wer der Übertrager war. Wir lassen die Zeit revuepassieren und gehen alle Begegnungen der zurück liegenden Tagen nach einem oder einer Schuldigen durch. Es gibt einige potenzielle Verursacher. Aber sind wir nicht selber schuld? Wir waren nachlässig geworden. Und jetzt müssen wir da durch. Doch noch ist nicht Schicht im Schacht. Ingrid fragt, blass und sichtlich erschüttert: „Vielleicht war auch dieser Test falsch. Erst ein PCR-Test ergibt ein echtes Ergebnis!“ Ich schlage Ingrid vor, gleich einen Corona-Test in einer der zahlreichen Teststationen in Bad Oldesloe durchführen zu lassen. Die weinerliche Ablehnung darüber zeigt ihren physischen Zustand auf. Sie beteuert, dass es ihr so weit gut gehe. Ich selbst muss raus. Vor die Tür. Ich fahre mit dem E-Roller zum Flohmarkt nach Bad Segeberg. Unterwegs gehen mir die Balken auf der Test-Kassette nicht aus dem Kopf. Wird es unser Leben verändern? Unsere Kinder haben beide eine Corona-Infektion schon überstanden. In unterschiedlicher Weise. Auch der Enkel.

Viele haben auf dem Flohmarkt die Schutzmaske auf, so wie ich. Das ist beruhigend. Oft habe ich es als Makel angesehen, mit Maske rumzulaufen. Doch in der Gemeinschaft wird es erträglich. Zur Selbstverständlichkeit. Nach kurzer Zeit breche ich das Bummeln zwischen den Ständen bei strahlendem Sonnenschein ab. Mir ist schwindelig geworden und leicht schwankend schaffe ich mich zurück zum Fahrzeug. Ich reiße die Maske runter, trinke etwas Wasser und fahre durch den kühlen, sonnigen Tag zurück. Mensch, ist das Leben schön. Was haben wir uns alles aufgebaut. Ich bete für ein gutes Ende. Sicher erreiche ich die Wohnung. Ingrid hat sich durchgerungen und für die Teststation ausgesprochen. Ich finde im Internet ein Testcenter, das heute ganztägig geöffnet ist. Wir ziehen uns warm an und ich fahre zum einem Supermarkt. Drei junge Menschen halten sich im Test-Container auf. Ausgelassen unterhalten sie sich miteinander. Ihr könnt vergnügt sein, denke ich. Ihr seid jung und müsst keine Angst vor dem Virus haben. Es prallt an euch ab wie ein Flummi-Ball. Am Fenster hängt ein Schild: Pause. Wir warten. Innen wird telefoniert. Eine junge Frau spricht mit ihrem telefonischen Gegenüber über ein Date. Worte wie ,Sex‘ fallen. Sie bemerkt, dass ich zuhöre. Verlässt den Container. Ein junger Mann kommt ans Fenster und fragt freundlich, ob wir einen Termin haben. Wir haben keinen. Er bittet uns, über den an der Containerwand befindlichen QR-Code einzuloggen. Ingrid ist sichtlich überfordert. Sie schwankt zwischen Weinen und Fassungslosigkeit. Ich übernehme das Administrative. Meine Frau stimmt zu, dass ich in der App angebe, dass die Information über einen ggf. positiven PCR-Test an die zuständigen Stellen weitergegeben werden kann. Wir haben nichts zu verbergen. Das Ergebnis dazu wird ihr später per Mail mitgeteilt. Zunächst wird sie Antigen getestet. Der junge Mann macht seine Arbeit gut. Ingrids Bedenken über Schmerzen und Unannehmlichkeiten, was die Testdurchführung angeht, sind wie weggewischt. Ihre Laune bessert sich. Sie strahlt schon wieder. Umgang mit freundlichen Menschen ist der Schlüssel. Die Sonne scheint noch immer und wir stehen vor dem Container und warten auf das Ergebnis. Weitere Test-Kundschaft trifft ein. Ingrid schlägt vor, mich auch testen zu lassen. Die gerade so positive, schon fast ausgelassen Atmosphäre auf diesem fahrzeugfreien Supermarktparkplatz lässt mich die drei Euro opfern und ich melde mich digital an. Auch meine Testung verläuft nicht sonderlich unangenehm. Der etwa 20-Jährige versteht seinen Job tatsächlich und ich teile ihm das mit. Er freut sich über meine Worte. Ich lege einen Euro in die am Containerfenster angebrachte Blechdose.

Ingrids Test ist positiv. Meiner negativ. Den Tatort am Abend finden wir bescheuert und schalten ihn vorzeitig ab. Es geht um Drogenpartys und als Krimiautor kann ich nicht glauben, was die Kommissare dort veranstalten. Wir wenden uns der letzten Folge von Goliath zu. Ich spüre eine gesundheitliche Verschlechterung. Kann aber auch nur Einbildung sein.

Tag 4 (vor dem offiziellen Corona-Testergebnis)

Die zweite Nacht alleine im Bett liegt hinter mir. Ich spüre gesundheitliche Veränderungen und nicht nur der Rücken schmerzt vom dauernden Rumliegen. Mir ist klar geworden, dass ich bei unserer wohnlichen Situation einer Infektion kaum entgehen kann. Aber möchte ich das? Das Virus flattert gerade hier in dem vielleicht 250 Kubikmeter großen Rauminhalt unserer Wohnung umher. Doch unsichtbar für uns beide und das macht es so gefährlich. Ingrid und ich gehen uns aus dem Weg. Sie hustet und ich ergreife die Flucht. Aber weit komme ich nicht. Maximal bis auf die Terrasse. In den Medien wird von schlauen Epidemiologen ständig von einer Durchseuchung der Bevölkerung gesprochen. Dazu sollte auch ich gehören, denke ich. Aber was, wenn es schief geht? Wenn ich mich mit einem Tubus im Hals auf der Intensivstation wiederfinde? Ich bin Privatpatient. Vielleicht hat das ja irgendwelche Vorteile. Aber Ingrid? Als Kassenpatientin? Ich verdränge die Gedanken. Mache Frühstück. Ingrid geht es nach einem Brot und einem Glas Saft schon besser. Sie erklärt sich fast schon für gesund. Was hat zu dieser wundersamen Genesung geführt? Die Scheibe Brot oder das Glas mit dem O Saft? Aber ihre Augen sehen weiterhin krank aus und ich weiß, sie möchte sich die Blöße und Niederlage einer Infektion nicht geben. Wer zwei Kinder geboren hat, den zwingt Corona nicht so schnell in die Knie. Ist das der Gedanke der dahinter steckt? Oder das Arzthelferinnen-Syndrom? Wir erklären Tochter Suzanne und Sohn Jan per WhatsApp, alles sei so weit gut. Ich gehe einkaufen. Zum ersten Mal seit Monaten wieder mit Maske, laufe ich zwischen den prall gefüllten Regalen umher. Andere Maskenträger und Maskenträgerinnen habe ich die letzten Monate stets belächelt. Nun wird mir bewusst, was der Grund für sie gewesen sein könnte, eine zu tragen. Ich schäme mich etwas. Als Trost gönne ich mir eine Flasche Coca-Cola. Schon gefühlt zwei Jahrzehnte ist es her, dass ich als junger Mensch die geliebte dunkle Flüssigkeit getrunken habe. Vor Jahren, einige Pfunde Bauchspeck zu viel, hatte ich mir vorgenommen, auf unnötig Süßes zu verzichten. Und den Konsum von Cola und anderen kalorienreichen Getränken dauerhaft eingestellt. Nun muss es halt sein. Man gönnt sich ja sonst nichts! Das Getränk hat meine Jugend im Saarland mitgeprägt. Tatsächlich. Ebenso süße Berliner und Zigaretten. Diese schöne Zeit und die unglaublich tollen Jugenderlebnisse im saarländischen Überherrn, bringen mir den leicht verloren gegangenen Glauben an eine rosige Zukunft wieder zurück. Zumindest zeitweise. Als er klein war erzähle ich Enkel Joris, dass ich als Kind nur drei Wünsche hatte: Eine Liter-Flasche Coca-Cola leerzutrinken. Drei Berliner nacheinander aufzuessen. Und ein Glas Nutella leer zu naschen. Dann lachte er immer so süß und sagt: „Ach, Opi!“ Die Cola schmeckt unglaublich. Aber ich spüre auch, dass es nach einem Kaffee zuvor meinem angeschlagenen Kreislauf nicht sonderlich gut tut. Ich beschränke mein erstes kulinarisches Cola-Erlebnis seit Jahren auf ein einziges Glas. Ingrid sitzt schon wieder an der Nähmaschine. Das monotone Geräusch des Motors vermittelt etwas von häuslicher Normalität. Ich quäle mich unterdessen auf dem Fernsehsessel rum. Mein Rücken schmerzt. Im Geiste erstelle ich eine Tabelle mit allen Infektions- und krankheitsbedingten Eventualitäten. Also den Symptomen, von deren Auftreten ich in die beiden letzten Jahre während einer Corona-Infektion gehört habe. Ich setzte einen virtuellen Haken bei meinen aktuellen Beschwerden. Was habe ich schon. Was habe ich hinter mir. Was kommt noch. So vermute ich mich stets auf einem aktuellen Stand, was meine Infektion betrifft. Die bestellte Gitarre wird laut DHL-Sendungsnummer morgen geliefert. Gibt es einen Morgen? Ja, es gibt immer einen Morgen.

Ich huste inzwischen. Typische Anzeichen für Corona und ein Haken mehr auf meiner Liste der „Hatte-ich-schon-Beschwerden“! Meine Temperatur beträgt um die 38 Grad, nichts Beängstigendes. Ich stehe auf. Tausche die Jeans gegen eine Jogginghose. Eigentlich mag ich keine Jogginghosen und gebe Karl Lagerfeld recht, dass, wer dauerhaft Jogginghosen trägt, die Kontrolle über sein Leben verloren hat. Unser Leben ist auch gerade außer Kontrolle geraten. Zum Glück nicht dauerhaft. Die Baumwollhose ist bequemer und Blutstau vom dauernden Liegen muss ja nicht zwingend sein. Die Rückenschmerzen mischen sich nun mit Kopfschmerzen. Ich erwäge, eine Aspirin Complex zu nehmen. Ingrid lehnt ab. Ich schaue eine Sendung im Fernsehen und weiß schon heute, drei Tage danach, nicht mehr, um was es ging. Der Tag ist abgelaufen wie im Fluge. Die Zeit hängt gerade etwas in Schieflage. Wie auf Salvatore Dalis Werk ,Die Beständigkeit der Erinnerung‘. Nur, dass statt der Fliege das Corona -Virus auf dem von Dali gemalten Ziffernblatt sitzt.

Gegen 21 Uhr halte ich es nicht mehr aus und verabschiede mich ins Bett. Ich nehme die gewünschte Aspirin und schlafe sofort ein.

Tag 3 (vor dem offiziellen Corona-Testergebnis)

Ingrid sprintet an diesem Dienstagmorgen schon wie ein junges Fohlen zwischen Nähmaschine und Küchenmaschine hin und her. Immer wieder muss ich sie zurück auf den Sessel bitten. Es ist, als ob sie den Berg hinunterrennt und ich ihn hoch. Die Nacht selbst verlief für mich beschissen. Ich wurde um ein Uhr wach, bin zur Toilette gegangen und anschließend nicht mehr eingeschlafen. Um drei schlich ich dann leise hinunter ins Wohnzimmer. Ich wollte Ingrid nicht im Nähzimmer wecken. Erst habe ich mich etwas durch die Fernsehsender gezappt. Später von der Couch auf den Sessel gewechselt und noch später von dort an den Esstisch. Schon früher hatte ich Probleme und Schmerzen, wenn ich viel liegen musste. Ich kann mich kaum an eine starke Erkältung zurückerinnern, in der ich mehr als drei Tage im Bett verbracht habe. Ich quälte mich dann stets in der Wohnung umher und legte mich letztendlich in der Nacht auf den harten Fußboden. Schmerzen sind es nicht. Es sind Beschwerden. Wie Zahnbeschwerden. Aber solche, bei denen man hofft, sie gehen vorbei und machen einen Zahnarztbesuch unnötig. Zwischenzeitlich lese ich das Hamburger Abendblatt. Das lenkt etwas ab. Eine Nachricht zeigt mir, dass jemand Interesse an einem von mir inserierten Effektpedal hat. Ich schreibe ihm um fünf in der Früh zurück. Sicher denkt er, ich komme von der Nachtschicht oder bin von Beruf Krankenpfleger. Die Kopfschmerzen werden vom dauerhaften Blick durch eine Lesebrille auf ein iPad-Display nicht besser. Ich trinke etwas O Saft und teste einen von Ingrids Froops. Lecker! Sie hat einen exzellenten Geschmack. Das hat man schon bei der Wahl des Ehemanns gesehen, denke ich. Das Lachen über meinen Scherz fällt mir schwer. Ich öffne die Haustür und atme die kühle, saubere Nachtluft ein. Der Bewegungsmelder erkennt mich und plötzlich stehe ich im Rampenlicht. Wie auf einer Bühne. Zum Glück ist niemand auf der Straße. Ich stehe ungekämmt, im ‚Born an der Saar‘ Hoodie und in einer Jogginghose vor der Tür. Früher scherte man sich nicht so sehr über Aussehen und Kleidung. Von der Bundesstraße dringt kaum Straßenverkehr zu mir nach oben. Das empfinde ich als sehr angenehm. Ich lege mich wieder ins Bett und quäle mich so lange, bis ich höre, dass Ingrid aufsteht und nach mir sieht. Ich erzähle ihr von meiner Nachtschicht. Sie beschwert sich, dass ich sie nicht geweckt habe. Verlangt einen erneuten Corona-Test von mir. Sie hat recht und ich erfülle ihr den Wunsch. Um acht Uhr früh an diesem Morgen tauchen zwei dünne Balken auf dem Kaufland-Corona Test für 1 Euro 75 auf. Hätte etwas finanzieller Mehreinsatz und somit ein vielleicht hochwertigerer Test aus der Apotheke auch dickere Balken bedeutet? Ich bin hin und hergerissen. Einerseits war es klar, dass es so kommen würde. Anderseits hatte ich noch ein Fünkchen Hoffnung, dass es sich um eine Herbstgrippe handeln könnte. Ich mache per Handy  einen Termin im Testcontainer beim Supermarkt für 08.40 Uhr. Wechsele von Jogging in Thermo-Unterwäsche und Lederjacke. Draußen scheint die Sonne so intensiv, dass sie mich auf dem E-Roller zur Teststation stark blendet. Der Container ist gerade frei von Kundschaft und eine junge Frau macht mir den Test. Nach wenigen Minuten Wartezeit steht fest, dass der billige Discounter-Test seinen Dienst, wenn auch nicht optisch, dafür aber technisch richtig gemacht hat. Es folgt das große Ganze: Der PCR Test. Die nette Frau warnt mich, den Stick nun in beide Nasenlöcher und noch in den Rachen führen zu müssen. Ich unterdrücke den dummen Spruch: ,Zum Glück nicht in weitere Öffnungen‘ und lasse es über mich ergehen. Im Fernsehen sah es schlimmer aus. Menschen würgten und ich hatte großen Respekt davor. War glücklich, solange davon verschont geblieben zu sein. Aber es war gar nicht so schlimm. Bei der Straße am Parkplatz gab es gerade einen kleinen Auffahrunfall. Die Sonne war schuld. Aber kein Personenschaden. Zum Glück. Das Test-Ergebnis wird mir, wie das von Ingrid, später per Mail übermittelt. Auch ich möchte das Ergebnis öffentlich. Ich rolle zurück. Beim Frühstück werden bei meiner lieben Frau Pflegekräfte wach. Genau nach der fast offizieller Bestätigung, dass auch ihr Gatte an Corona erkrankt ist.  Ihre Beschwerden zeigen sich nur noch so weit, dass sie alle Stunde ächzend und schlapp auf den Fernsehsessel herniederfällt. Dazwischen ist sie irgendwo im 107 qm Wohnfläche großen Haus verschwunden. Der Gitarrist hat schon überwiesen. Wie kommt es? Wochenlang hat niemand Interesse an meinem Angebot. Und nun, wo ich krank und apathisch hier rumliege, muss ein Päckchen zur Post. Ich schleppe mich zum Computer und drucke einen Paketschein aus. Das kleine Pedal in einen zigarrengroßen Karton ist schnell verpackt, der Aufkleber drauf. Ich erinnere mich an den Service der Post, das Paket beim Zusteller abgeben zu können. Das trifft sich gut. Gerade klingelt der Zusteller in gelb-schwarz. Ich ziehe die Maske über und öffne die Haustür. Er trägt kurze Hosen und zieht eine arg gestresste Miene. An der Hauswand lehnt in einem halben Quadratmeter Karton meine neue Gitarre. Er will schon wegrennen. Ich stoppe ihn mit dem Satz: „Könnten Sie bitte das Paket mitnehmen. Ist schon frankiert!“ „Ich bin krank und komme nicht aus dem Haus“, füge ich noch hinzu. Der Mann bremst seine Flucht. Sein Gesichtsausdruck vermittelt mir eine Art Vorstufe eines Burn-Outs. Ich bin mir der Schuld bewusst, dass er, würde ich keine Pakete mehr versenden, mehr Zeit für andere, wichtigere Dinge hätte. Er belehrt mich unten im Kaufland gäbe es einen DHL-Shop. Ich erinnere mich an die unnötige Auseinandersetzung mit der Verkäuferin a. D.  des Brotes wegen, wenige Tage zuvor. Ich erkläre noch mal freundlich, aber bestimmt, dass ich krank bin und nicht aus dem Haus kann. Das Wort Corona möchte ich nicht nennen. Noch gibt es ja Hoffnung. für mich Ein letzter Versuch der Ausrede, sein gelber elektrifizierter Golf-Caddy sei voll beladen, lässt mich unter der Maske grinsen. Ich zeige auf das Paket an der Hauswand und mache ihm den Platz im Post-Caddy deutlich, der durch die Auslieferung meiner Gitarre freigeworden ist. Er knickt ein. Ich folge seiner Aufforderung, das Paket auf die Stufen der Treppe zu legen. Er druckt den Beleg aus und legt ihn ab. Es hat etwas von konspirativer Übergabe. Aber ich bin das Paket los.

Am Nachmittag erreicht Ingrid die Mail aus dem Labor. Nun hat sie es schwarz auf weiß: Sie ist Corona Positiv. Bekommt auch ein Zertifikat. Ähnlich einer Auszeichnung. Super! Mich erschlägt das alles. Erst diese Bestätigung und nun das Warten auf mein eigenes Testergebnis. Zu den Kopf- und Rückenschmerzen, der erhöhten Temperatur, dem Laufen der Nase, kommt nun auch noch Reizhusten. Ich bete, dass es nicht auf die Lunge schlägt. Atmung ist wichtig und ich möchte nicht, dass dies ein Schlauch und eine Maschine erledigen. Die Bilder von beatmeten Corona-Patienten führen zu deutlichen Bauchschmerzen. Habe ich nun alle Beschwerden aufgezählt? Ich bin mir nicht sicher. Die Gitarre ist so, wie sie sein sollte. Der Kauf erlöst mich aber nicht von meinem krankheitsbedingten Frust. Ich hoffe auf das Fußballspiel am Abend und einen Sieg des HSV gegen RB Leipzig. Doch die Leistung der Hamburger reißt es nicht raus. Aber mich runter. Dieses Mal halte ich länger durch. Schaue noch die Zusammenfassung alle DFB-Pokalspiele und lege mich dann alleine in das Doppelbett. Am Morgen legt Ingrid sich dazu. Endlich kann ich einschlafen.

Tag 2 (vor dem offiziellen Testergebnis)

Die Nachricht vom Ergebnis meines positiven Antigen-Tests löst beim Aufstehen am Mittwochmorgen bei mir irgendwie Auftrieb aus. Das habe ich die Tage auch bei Ingrid feststellen können. Diese Unsicherheit bis zur Eröffnung des Testergebnisses hat sie massiv genervt. Es hatte etwas von positivem Schwangerschaftstest. Nur ist der mit viel Freude verbunden. Meistens! Meine Körpertemperatur liegt unverändert bei knapp über 38 Grad. Etwas Druck auf der Brust ist hinzugekommen. Auch Schluckbeschwerden. Kennt man alles von der alten Grippe, denke ich. Kann man! Muss man nicht haben! Wir trinken am Mittwochmorgen im Bett Kaffee. Die Geschmacksnerven wurden zum Glück durch die Krankheit – zumindest bisher – nicht gestört. Ich genieße noch ein Croissant vom Einkauf am Montag. Es wegzuwerfen ist mir zu schade. Ingrid beginnt nach dem Frühstück mit Brotbacken. Ich telefoniere lange mit Sohn Jan. Das baut auf. Am Nachmittag setze ich mich an den Computer und arbeite an meinem Buchprojekt für das Jahr 2024. Das Manuskript von ‚Ernst‘ ist fertig, aber ich lasse es mir vom Word-Soundmodul vorlesen. Ich fühle mich auf dem Weg der Besserung. Das ist gut und nimmt mir etwas die Angst vor weiteren Problemen. Ein Trugschluss? Oder nur Hoffnung? Nachbarin Britta hat heute Geburtstag. Man verwöhnt uns mit Geburtstagskuchen. Ihr Lebensgefährte Lothar stellt ihn vor die Tür. Echtes Corona-Revival kommt auf. Essenslieferungen von außen! Wie im Jahr 2020. Ich hege den Gedanken, auf den Balkon zu klettern und für die Pflegekräfte zu klatschen. Leider besitzen wir keinen Balkon. Also klatsche ich innerlich. Ingrid ist wohl über den Berg. Sie kommt fein gekleidet die Treppe hinunter. Ich schaue genau hin, es handelt sich um eine Art moderner Morgenmantel. Sie hat sich schon wieder für den Empfang von Besuchern hergerichtet. Nein, natürlich lassen wir niemanden rein. Wir lernen nun die Gebärdensprache, um uns durch das Küchenfenster mit den Nachbarn auszutauschen. Spaß beiseite, wir wissen doch, was sich gehört: Völliger Verzicht auf face-to-face-Kommunikation. Auch bei mir steht Körperpflege an. Ist etwas kurz gekommen die letzten Tage. Verständlicherweise. Ich nehme also eine Dusche. Mit dem kleinen Warmluftgebläse aus dem Wohnmobil heize ich, zu meiner gesundheitlichen Sicherheit, das Badezimmer vor. Beides mit schlechtem Gewissen. Ich möchte nicht mit schuld sein an der Zerstörung des Planeten. Also schnell geduscht, ohne Haare und sofort wieder anziehen. Keine Sekunde zu lang Gas und Strom verschwenden. Dieser gehetzte Vorgang wirft mich körperlich um Stunden zurück. So, als habe ich einen Zug bekommen (nein, nicht den der Bahn). Ich fühle Schüttelfrost und greife zum ersten Mal nach einer Wolldecke. Nehme einen Joghurt-Trunk zu mir. Wir hatten ihn für Enkel Joris gekauft. Mangels Besuchsverbot konnte er ihn nicht trinken und bevor er abläuft … doch die Milch verursacht Reiz im Rachen. Dazu Husten und jegliche Freude auf Genesung weht dahin, wie Sand im Wind. Ich bekomme etwas Panik. Zu früh gefreut? Unterschätzt? Der Simulant von Zimmer …! Nein! Ablenken ist angesagt. Ingrid und ich schauen also ,Play-List‘, eine Netflix-Serie über Daniel Ek, den Gründer des Streamingdienstes Spotify. Später lese ich die Gitarre & Bass und blicke hin und wieder zur Ibanez Gitarre. Das baut mich etwas auf und lenkt ab. Der Hunger hat sich zwischenzeitlich verändert. Das ist eigentlich gut. Einige Pfunde könnten runter. Ingrid spürt den gleichen Verlust an Hungergefühlen, erklärt sie. Trotzdem kocht sie abends eine Kleinigkeit und ich zwinge mir die leckere Mahlzeit hinunter. Ein kleines Eis verursacht am Abend erneut Hustenreiz und Beschwerden. Ich nehme mir vor, auf alles Milchhaltige bis zur endgültigen Genesung zu verzichten. Nein, Milch im Kaffee muss bleiben. Das bisschen. Ich bin konsequent. Verzichten gehört zum Krankenstand. ,Wie viele Dinge es doch gibt, die ich nicht brauche!‘, soll Sokrates vor rund 2.500 Jahren mal gesagt haben. Mir geht es ähnlich. Tochter Suzanne ruft an. Auch sie fühlt sich seit gestern leicht unwohl. Sie ist geimpft und hatte auch schon den Virus. Aber das ist ja, bekannterweise, keine Garantie. Suzy überlegt, ob die Ansteckung mit dem Virus beim gemeinsamen Abendessen letzte Woche im Restaurant an der Ostsee stattgefunden haben könnte. Ein jugoslawischer Grieche mit Corona! Passt! Ich nehme mir vor, trotz meiner Abneigung gegen Masken,  diese über Herbst und Winter wieder in Geschäften anzulegen. Ingrid stimmt mir zu. Auch sie ist genervt von dem dämlichen Virus. Möchte alles erdenkliche tun, um die nächsten Monate davon verschont dazu bleiben. Meine Rückenbeschwerden sind nahezu unerträglich und ich nehme vor dem Zubettgehen eine Schmerztablette. Das macht Sinn, denn ich schlafe gut und schnell ein.

Tag 0 – Offizielle Bestätigung einer Corona-Infektion

Ich werde um drei Uhr in der Nacht auf Donnerstag wach. Ich fühle mich kalt, untertemperiert. So, als ob ich in der kalten Erde liege. Dabei befinde ich mich in meinem Bett. Doch es hat etwas von Grabstätte. Mein Shirt ist durchgeschwitzt. Auch die Bettdecke. Ich wanke zur Toilette, wechsele die Kleidung und lenke mich ab, indem ich über den Text zum neuen Krimi-Song ‚Stefanie’ nachdenke. Danach schlafe ich schnell wieder ein. Am Morgen werde ich zusammen mit Ingrid wach. Sie kommt aus ihrer Notunterkunft und schaut nach mir. Ich habe ihrer Aussage nach einen knallroten Kopf und erkläre ihr extrem zu frieren. Meine Körpertemperatur beträgt laut Messung 36,2 Grad und ich empfinde es wie unterwegs ohne warme Kleidung auf einer Expedition am Nordpol. Dafür hat die Schmerztablette gewirkt und die Rückenbeschwerden sind noch immer verschwunden. Glück auf! Das wird auch über den Tag so bleiben. Ich stolpere runter in die Küche und habe etwas Angst vor auftretenden Kreislaufproblemen. Hatte ich die bei meiner Ausführung zu allen auftretenden Beschwerden schon genannt? Ich bin mir unsicher. Beim Frühstück zeigt sich mein Hunger. Ich genieße die Eier und Ingrids frisch gebackenes Brot. Am frühen Morgen ist endlich die Mail vom Labor eingetroffen. Nun gehöre ich auch zu den Privilegierten mit echtem Corona-Zertifikat. Ich überlege, einen Verein zu gründen. So wie Kriegsveteranen oder die Überlebenden der Titanic. Verein der Corona -Überlebenden e. V. Ingrid nennt mich einen Träumer (but I´m not the only one). Sie lacht dabei. Laut Körpertemperatur fantasiere ich aber nicht. Die Herbstsonne draußen reißt nicht ab. Ich will mich ärgern, dass es gerade jetzt so schön draußen ist, wenn es mir nicht gut geht. Aber gefühlt das ganze Jahr hat uns das schöne Wetter schon beglückt. Am Nachmittag machen wir trotzdem den Kamin an. Das tut gut und ich bekomme wieder Lust auf das Schreiben. Ich entscheide mich dazu, ein Tagebuch über meine Corona-Infektion zu verfassen. Ich setze es gleich um und schon nach wenigen Minuten teile ich Ingrid meinen Entschluss mit. Ich lese ihr die ersten Sätze vor. Sie ist begeistert und unterstützt meine Idee, Persönliches preiszugeben. Auch Tochter Suzanne hat keine Einwände und teilt mir das bei einem Telefonat mit. Den Nachmittag verbringe ich mit Schreiben. Ich möchte das Erlebte so schnell wie möglich zu Papier bringen. Zu schnell ist vieles vergessen oder ich kann es zeitlich nicht mehr zuordnen. Ich bastele ein Foto für Instagram und Facebook und spüre bald, wie kräftezehrend die Arbeit am Computer doch sein kann. Es geht wieder zurück auf die Couch. Die Spotify-Doku reißt es etwas raus. Kaffee, dazu der leckere Kuchen von Nachbarin Britta und ich fühle mich in der Lage, weiter zu schreiben. Die Gedanken sind schneller als meine Finger auf der digitalen Tastatur. Aber das nutzt nichts. Ich bremse die Gedankenströme, um nicht das meiste zu verlieren. Ingrid hat inzwischen Reis gekocht. Dazu gibt es Hähnchen und Gemüse. Auch eine Soja-Soße. Lecker. Es geht aufwärts. Meine Rückenbeschwerden sind noch nicht zurückgekehrt. Aber meine Lebensfreude und das Durchhaltevermögen. Ingrid schaut währenddessen ,Madame Secretary‘ oder so. Das stört mich nicht. Beim Schreiben fühle ich mich fast beschwerdefrei. Ich überlege, ob ich Ingrid bitten soll, wieder das Bett mit mir zu teilen. Wir können uns ja gegenseitig nicht mehr anstecken. Zwei Infizierte in einem Zwei-Personenhaushalt. Traumhaft. Am Abend findet eine WhatsApp-Video-Schalte mit Enkel Joris, seinem Papa Jan in Irland und unserer Tochter in Volksdorf statt. Wir bekommen Einblicke in die unberührte Landschaft der Grünen Insel und ich muss meine musikalische Neuanschaffung, die E-Gitarre, zeigen. Es läuft gut!

Ich hoffe, die Nacht wird nicht wieder zum Feind.

Tag 1 (nach offizieller Bestätigung der Corona-Infektion)

Es ist kurz nach vier Uhr an diesem Freitagmorgen. Im Fernsehen haben sie von aufziehendem Regenfeld gesprochen und tatsächlich habe ich letzte Nacht vor dem Einschlafen gegen Mitternacht ein Plätschern gehört. Nein, es ist nicht der Rücken, der mich nach unten auf den Sessel treibt. Die Schmerztablette scheint noch immer anzuhalten. Oder die Gliedmaßen und Muskeln haben resigniert und aufgegeben, sich zu beschweren. Ingrid hat diese Nacht ja das erste Mal wieder neben mir gelegen. Es war ein Versuch. Sie meinte, wenn du dauernd hustest, ziehe ich wieder um ins Nebenzimmer. Es klang zwar wie eine Drohung, war aber nur eine gesunde Sicht auf unsere eigene Sicherheit. Wir selbst sind uns im Unklaren darüber, ob eine gegenseitige Berieselung mit kleinen infizierten Tröpfchen unsere aktuelle Lage verschlechtert. Und die Genesung hinauszögert. So eine Art Pingpong Effekt. 32 Monate Corona und wir wissen: Nichts. Nein, das wäre unfair. Wir haben diesen genialen Impfstoff und da muss man dem demokratischen Staat danken. In einer Diktatur, in der Gewinnoptimierung ganz hinten steht, wäre die Entwicklung eines Impfstoffes und die Gesundheit der Bevölkerung eher Nebensache gewesen. Dort hätten sich die Herrscher wahrscheinlich nur Panic-Rooms oder Schutzbunker mit Swimmingpool, Sauna und Sterne-Restaurant gebaut und gewartet, bis die Corona-Dauerberieselung vorbei ist. Aber hätte, hätte, Fahrradkette. Und das es auch andere Gründe gibt, die Bevölkerung zu schützen, sieht man in China.

Ich mache mir Gedanken um meinen Schatz. Sicher hat Ingrid die letzten Tage im Ikea-Bett nicht besonders gut geschlafen. Für Schlafkomfort ist das schwedische Möbelhaus nicht sonderlich bekannt. Wohl eher für Pressspan-Falttechniken. So viel zur schon genannten Fürsorge meiner Ehefrau. Ich habe begonnen, Nasenspray zu nehmen. Stand Schnupfen nicht auf der Tritt-nicht-auf-Liste bei Corona? Gott, war das ein Zinnober im Jahr 2020. Jeder Pups war ein Verdacht. Und jetzt haben wir uns selbst mit dem Virus angesteckt. Ich habe damals tatsächlich nicht mehr an ein gutes Ende für die Weltbevölkerung geglaubt. Gut, bisher ist ja auch kein Ende und insbesondere kein Gutes absehbar. Aber das Leben blieb für die meisten bisher ertragbar. Als gottesfürchtiger Katholik und ehemaliger Messdiener, mit leichter Vernachlässigung des Glaubens in den letzten Jahren, hatte ich das Beten wieder angefangen. Plötzlich verliert man jeglichen Halt. Auch starke Charaktere. Und ich habe mich stets, vor allem was den Familienzusammenhalt angeht, als stark und zielstrebig angesehen.

Ich bin gerade aus dem gemeinsamen Schlafzimmer geschlichen und habe leise die Tür geschlossen. Ingrid ist nicht wach geworden. Prima. Soll sie nun noch etwas Schlaf bekommen. Ich hatte die letzten Tage genügend davon. Wenn auch nicht immer den Besten. Heute vor einer Woche begann die Krankheit. Wann wird sie beendet sein? Ich denke an den langen Covid. An Menschen, die trotz Impfung schon mehr als eine Infektion hatten. Ich bin 1954 geboren und wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, wird mir eines klar, uns hat es damals an nichts gemangelt. In den 60er-Jahren war das Angebot in den saarländischen Ladenregalen eher mickrig. Aber die Grundnahrungsmittel waren stets verfügbar und dazu warmes Essen. Marmelade sorgte für süßen Brotaufstrich. Manchmal tat es auch Zucker auf einem Butterbrot. Streusel waren unser kindliches Highlight. Streusel ohne Kuchen. Nur Butter, Mehl und Zucker. Verklumpt und gleich vernascht. Hin und wieder konnte ich meine Mutter noch spät am Abend davon überzeugen, dass ihr Söhnchen Verlangen nach etwas Süßem und speziell auf Streuseln hatte. Sie war eine sehr liebe Mutter. Heute stehe ich abends beim letzten Kaffee vor unserem Schrank mit zahlreichen Süßigkeiten und frage mich, was es denn heute sein darf. Diese dekadente Entscheidungsnot hatten meine liebe Schwester Elke und ich als Kinder nicht.

Beim Aufstehen spüre ich Schluckbeschwerden. Auch habe ich das letzte Bier genau vor einer Woche getrunken. Auch keine anderen alkoholisches Getränk bisher. Das ist es, was Corona aus den Menschen macht. Nicht nur Entzug von Kontakten. Nein, auch das Reinheitsgebot kommt zu knapp. Es gibt aber auch Vorteile durch eine Corona-Infektion. Man entgiftet den Körper, so die Presse. Gestern, beim Testcontainer stand ein Mann und rauchte, während er auf das Ergebnis wartete. Was bin ich froh dass ich 1986 nach jahrelanger Raucherei, aufgehört habe. Ich bin mir sicher, Ersticken gehört nach Verbrennen auf den zweiten Platz der Todesursachen, denen ich auf keinen Fall erliegen möchte. Als ob man sich das aussuchen könnte. Aber man kann ja Vorsorge treffen. Und das Rauchen aufgeben. Ich als Moral-Apostel. Da bin ich sicher total der Falsche. Es ist 4 Uhr 30. Ich überlege die Kaffeemaschine einzuschalten. Aber das Geräusch des Mahlwerks könnte Ingrid wecken und sicher ist es gesundheitlich nicht förderlich, so früh schon Kaffee zu genießen. „Mach dir keine Sorgen, es wird schon weitergehen“ singt Marius im Song „Es geht mir gut“. Aber wie? Wieder Dauer-Skepsis gegen jeden, der dir zu nahe kommt? Mit einigen Einschränkungen, wie Maskenpflicht oder auch Änderung der Ladenöffnungszeiten, die zusätzlich dem Energiesparen dienen, kann ich leben. Aber die Schulkinder wieder aus der Schule zurück ins Home-Learning zu schicken, da bin ich strikt dagegen. Diese Auswirkungen hat man auch bei unserem Enkel bemerkt. Aber wie macht man es richtig? Man hat Spahn und jetzt Lauterbach oft angegriffen. Zum Teil schlimm und weit unterhalb der Gürtellinie. Ich persönlich finde es angenehm, dass mir gewählte Vertreter die schweren politischen Entscheidungen abnehmen. Auch wenn sich später vielleicht herausstellt, dass man es hätte besser machen können. Als Vater von zwei Kindern steht man zusammen mit der Ehefrau oft vor Fragen, die die Zukunft der Familie beeinflussen und verändern. Kaufen wir das Haus? Soll die Tochter in diese weiterführende Schule oder in eine andere? Ich finde, der beschissenste Job in den letzten Jahren ist es doch Politiker zu sein, oder? Man kann doch wohl von Glück sagen, dass uns Corona mit einer halbwegs intakten Regierung überraschte. Andere Volksvertreter haben sich bei Ausbruch der Seuche sicher gleich in die DomRep abgesetzt. Ich mutmaße nur! Am Geld kann es doch nicht liegen, wenn man in die Politik geht. Die Minister haben doch kaum Zeit, ihre Euros für einen Urlaub auszugeben, schon gibt es wieder einen politischen Grund, sie vom Swimmingpool zurückzupfeifen. Aber was hat das mit meiner Corona-Erkrankung zu tun? Keine Ahnung. Ich denke mal einfach nicht an ein neues Buchprojekt oder an Werbung. Habe ich schon davon berichtet, dass ich Hamburg-Krimis schreibe? Nein, Quatsch! Das ist nicht das Thema. Ich gehe mir mal eine Wolldecke holen.

Bis kurz vor neun Uhr hat Ingrid geschlafen. So konnte sie etwas vom entgangenen Schlaf nachholen. Ich dagegen bin gegen sechs am Morgen eingenickt und war schon um sieben wieder wach. Die Couch ist trotz Kopf und Beinverstellung kein Ersatz für eine Federkernmatratze plus Topper. Ingrid fühlt sich wie neugeboren. Ihr schauspielerisches Talent ist mir bislang noch gar nicht aufgefallen. Man sieht ihr die abklingende Infektion im Gesicht und an den Augen an. Sie möchte mir Hoffnung auf meine baldige Genesung machen. Das macht tatsächlich Sinn. Ich kann das gut brauchen. Rumliegen bringt nur die Rückenbeschwerden zurück. Was mich gerade besonders nervt, ist die verstopfte Nase. Das mochte ich noch nie und hatte früher stets Nasenspray dabei. Zum Glück kam es nicht oft zum Einsatz. Soll bei dauerhaftem Sprühen ungesund sein für die Nasenscheidewand. Braucht man die eigentlich? Ohne Scheidewand muss es doch auch funktionieren. Man hat mehr Zug, wie beim Kamin. Nein, war nur Spaß! Die Frage ziehe ich zurück. Ingrid hat mir, um Schaden abzuwenden, einen Spender mit Meersalz-Gedings hingestellt. Ich habe es mehrfach in die Nasenlöcher gesprüht. Aber da kann ich auch an einer Kornblume riechen. Linderung bringt das Drogerieprodukt nicht. Nach dem Frühstück testet sich Ingrid frei. Mit diesen Billigtests. Erst zeigt die Kassette lange nichts an und ich glaubte schon nicht mehr an eine Reaktion. Dann kommt im Schneckentempo ein dünner roter Strich um die Ecke. Als ob er erst noch woanders etwas zu tun hatte. Diese Billig-Tests taugen nichts. Noch zwei, dann sind sie aufgebraucht. Ich kaufe später welche, die schneller reagieren. Man möchte ja Gewissheit und keine Schätzungen. Wie „Also ich denke, es könnte sich um …!“ Auch keinen Pi mal Daumen-Wert von dem man nicht weiß, ob man ihn ernst nehmen soll. Ich wasche meine Haare. Das ist nötig. Sicher erwarten wir keine Gäste und der Postbote kommt eh immer seltener. Und wenn, stellt er das Paket in den Carport und rennt um sein Leben. Na ja, die haben es nicht einfach. Nun ist es 48 Stunden her, seit mein PCR-Test durchgeführt wurde. Da kann man noch nicht von mir erwarten, dass ich die Treppe hochspringe. Ingrid telefoniert mit Suzy. Später mit Oma Conny, die hat heute Geburtstag, 81 Jahre. Möchte ich so alt werden? Ich bin mir nicht sicher. Man entgegnet dann: Wenn man noch rüstig ist, warum nicht!  Aber gerade macht mir die aktuelle Welt nicht gerade Lust auf ein hohes Lebensalter. ,Schau ma mal‘, würde der Bayer sagen und Söder muss es ja wissen. Ich spüre, dass die vielen Überlegungen zum Corona-Tagebuch und die lange Zeit am Tablet mich ermüden. Dazu machen sie mich nervös. Ich verabschiede mich hoch in mein Bett, möchte etwas fehlenden Schlaf nachholen. Aber es klappt nicht mit dem Einschlafen. Zu viel geht mir durch den Kopf. Schon bald bin ich wieder unten.

Renne auf der Terrasse hin und her. Das Betonpflaster ist strapazierfähiger als das Wohnzimmerparkett. Die Welt dort draußen läuft weiter. Egal was passiert. Und das ist gut so.
Später schaue ich fern. Kiel und Darmstadt trennen sich am Abend 1:1. Die beiden 2. Ligavereine haben mich gut unterhalten. Ingrid hat dauernd, gefragt ob das Fußballspiel noch lange dauert und wir dann endlich etwas Anständiges anschauen würden. Wieso anständig. Unanständig wäre auch doch o. k. Aber ich fühle mich noch nicht. Anschließend schauen wir noch Jürgen Vogel in ,Jenseits der Spree‘. Eine Krimi-Serie. Und keine Schlechte. Kann man sich gut anschauen. Sicher besser als das, was uns am Sonntag bim Tatort aus Münster erwarten wird. Ingrid und ich mögen die beiden verbeamteten Clowns Börne und Thiel nicht. Wenn schon Comedy, dann richtig. So wie bei den Supernasen oder bei Zwei wie Pech und Schwefel. Waren zwei nicht immer doof? Tom und Jerry, Dick und Doof, Pat und Patarchon!
Um zehn liege ich geduscht und alleine im Bett. Es geht mir fantastisch.

Corona hat auch seine guten Seiten: Man(n) hat viel Platz im Bett.

Tag 2 – Samstag danach

Ich werde hustend wach. Erst denke ich, ich träume. Als mir aber langsam die Luft wegbleibt, reagiert der Körper zum Glück automatisch. Bestimmt habe ich Speichel eingeatmet. Möglich wäre es. Die Nase ist dicht. Dann bleibt im Schlaf nur noch die Atmung durch den Mund und das ist bei mir der wunde Punkt. Es dauert annähernd eine Viertelstunde, bis sich alles beruhigt hat. Mein Hals schmerzt. Vom Husten. Corona ist immer für eine Überraschung gut. Ich weiß. Auch, dass ich geträumt habe. Ich versuche mich zu erinnern. Vergebens. Träume sind Schäume. Ingrid ist Gott sei Dank von der Husterei nicht wach geworden. Ich mache kurz Licht: Drei Uhr am Morgen. Der komplette Schlafrhythmus ist durcheinander. Wie ein Orchester, dessen Dirigent gegen den eigentlichen Takt arbeitet. Die Nase war schon immer mein wunder Punkt (sagte ich es nicht schon?). Eine HNO-Ärztin hatte mich Ende der 90er-Jahre fast mal so weit, die Nasenscheidewand operieren zu lassen. Dann stellte sich heraus, sie wollte diesen medizinischen Eingriff an fast allen ihren Patienten durchführen. Grund: Sie hatte Belegbetten in der Klinik und die mussten befüllt werden. Noch mal gut gegangen! Der Reizhusten hört einfach nicht auf. Ich hoffe, Ingrid wird nicht wach. Ich lenke mich ab, in dem ich diese Sätze formuliere. Das Leben ist schon eine komplexe Sache. Und wenn man so wie ich gerade 67 Jahre alt im Bett liegt, dann muss man dankbar sein, dass es einem noch gibt. Und das man morgens noch wach wird. Ein Hustenanfall und … nein, nicht daran zu denken. Auf der Suche nach einem Papiertaschentuch fällt die Schachtel mit dem Fieberthermometer auf den Boden. Ein Höllenlärm. Ich höre ins Dunkel. Alles bleibt ruhig. Eigentlich sollte ich wieder aufstehen, nach unten gehen. Und dann? Ich horche in meinen Körper. Wo stehe ich momentan. Starkes Stechen im Kopf. Kommt vom Liegen. Leichte bis mittlere Rückenbeschwerden. Dito. Nase zu. Na wenigstens etwas, was ich Corona in die Schuhe schieben kann. Der Husten. Sicher auch. Temperatur fühlt sich gut an. Ich schwitze nicht. Ingrid hat mir den MARKT neben das Bett gelegt. Inklusive  Werbung. Ich blättere lustlos darin rum. Oh, Froof sind im Angebot. Muss ich weitergeben. Es ist zu früh, um sich schon Gedanken über den Tagesablauf zu machen. Ich lege mich wieder auf den Bauch und bin bald eingeschlafen.
Ingrid steht plötzlich im Schlafzimmer. Ich schaue auf den phosphoreszierenden Zeiger der Uhr: 4:47 Uhr. Ich hab etwas geschlafen. Sie fragt nach meinem Befinden. Schlaftrunken erkläre ich mich für sorgenfrei. Also, was ihre Ängste betrifft. Ihr geht es auch gut, bestätigt sie, bevor sie ins Bett verschwindet.

Ich träume von einer Dating-App, die von Facebook betrieben wird. Die Match-Gewinner können sich dann all die veröffentlichten Fotos der Facebook-User anschauen. Wie komme ich auf so einen Mist? Werde morgen Mark (Zuckerberg) meine Idee zukommen lassen. Eine Dating-Revolution, hervorgerufen durch Corona-Fantasien. Ingrid erschreckt mich kurz vor neun. Ihr Kaffeedurst treibt sie zu diesem Entschluss. Ich stimme zu und während sie sich die Zähne putzt, besorge ich Kaffee. Samstags gibt es im Fernsehen kein Morgenmagazin. Also schauen wir irgendeinen Dritt-Sender. Eine junge Ahrensburgerin ist mit zwei Pferden und einer Ziege zum Bodensee unterwegs. Eine Wahnsinnsidee, denke ich und teile Ingrid mit: „Wenn sie am Ziel angekommen ist, schreibt sie sicher ein Buch!“
„Wenn ich beim Bodensee angekommen bin, schreibe ich ein Buch!“, erklärt die junge Frau strahlend vor ihrem Iglu sitzend in die Kamera. Ich kann Gedanken lesen und versuche mich an den Lottozahlen der nächsten Woche. Ingrid schaut im Handy nach Nachrichten. Gute brauchen wir aktuell. Keine, die auf noch mehr Ärger hindeuten. Heute fliegen Enkel Joris und sein Papa zurück von Irland nach Hamburg. Hoffentlich geht alles gut. Streiken die bei Eurowings eigentlich noch? Seltsam, dass sich in diesem Land immer irgendwelche Arbeitnehmer im Streik befinden müssen. Warum mehr Geld, man kann doch gerade kaum etwas ausgeben. Außer für Energie. Und da will uns die Regierung ja unterstützen. Egal, was kümmert es mich. Erst mal muss das Virus aus meinem Körper. Ingrid macht Essenspläne fürs Wochenende. Mir ist schlecht von den ganzen Vorschlägen: Pizza, Nudeln, Hähnchen. Eigentlich müssten mir bald die Hosen mit Größe 32 wieder passen, wenn das so weitergeht. Es ist Samstag. Keiner der Schönsten. Alles feucht draußen, klamm. Die Wolken hängen tief. Das beste Wetter, um krank zu sein, denke ich. Als Jugendlicher liebte ich solche Tage. Habe mir fünf Bücher unters Bett gelegt und gebetet, dass die Körpertemperatur noch lange um die 38 Grad bleibt. Angst machte mir damals alles, was um die 40 Grad lag: Fieber! Da fantasierte ich auf Teufel komm raus. Ich stürzte dann immer in die Tiefe. Unter mir eine dunkle Öffnung und meine Eltern kamen auf meine Schreie hin ängstlich an mein Bett gerannt. Anfänglich verabreichten sie ein Medikament das u. a. den Wirkstoff Chinin enthielt. Doch Chinin vertrug ich nicht. Dann kam zu dem freien Fall und dem riesigen Loch noch jede Menge weiterer Ungemach. Da war mir erhöhte Temperatur lieber. Die regte zwar auch die Fantasie an, aber es gab dabei keine Abstürze. Ich schaue auf unsere kleine Terrasse. Immer mehr Blätter haben es sich auf dem Boden bequem gemacht. Der Natur ist es egal, dass wir Menschen uns in einer weiteren Corona-Welle befinden. Sie macht einfach in ihrem Rhythmus weiter. Zu Beginn der Corona-Krise habe ich oft überlegt, was geschehen würde, wenn viele der Bevölkerung an dieser Infektion dahinscheiden würden. Wenn ganze Häuserblocks leer stehen würden weil die Bewohner verstorben sind. Im Kamin des seit Jahren unbewohnten Mietshauses nebenan haben sich dauerhaft Elstern eingenistet. Ich denke, unser Edelstahlkamin sollte für die Vögel nicht so interessant sein.

Der gelbe Golf-Caddy der Post ist eben vorgefahren. Vielleicht sollten die nur alle zwei Wochen Pakete und Briefe ausliefern. Rechnungen erhielte man dann später und könnte länger auf irgendwelchen Ärgernisse, wie Bußgeldbescheide und Tariferhöhungen warten. Nach Auslieferungen hätte man sichere 14 Tage und Nächte Ruhe. Auch würde sich die Vorfreude auf das Gekaufte verlängern. Es macht doch keinen Spaß mehr, wenn man mittags bestellt und das Bestellte schon am nächsten Morgen vor der Tür liegt. Das ist wie täglich Weihnachten feiern. Ich empfinde drei Stufen der Freude, wenn ich mir etwas Außergewöhnliches leiste:

  1. Die Freude am Suchen. Dieser virtuelle digitale Flohmarkt im Netz, bei dem man sich anonym durch die Verkäufe und Angebote anderer wühlen kann. Wo man unverschämt oder auch nicht runterhandelt. Andere maßregeln kann, dass ihre Preise zu hoch oder der Verkaufsgegenstand in keiner Weise seinem eingestellten Verkaufspreis entspricht. Auf dem Sofa sitzend, bewegungsarm die Welt nach Schnäppchen durchsuchen. Etwas, was riesigen Spaß macht.
  2. Der Bestellvorgang. Diese Ohnmacht, den Zahlvorgang vor Augen oder vor dem Kaufbutton von Ebay oder Amazon sitzend. Den Finger erhoben. Den Finger, der den Kaufvertrag gleich abschließen wird. Dazu die Ängste, Schweiß, erhöhter Puls. Gab es den Artikel tatsächlich nirgendwo billiger? Kommt der gebrauchte Gegenstand auch im beschriebenen Zustand an? Dann beginnt die Schlacht zwischen Käufer, also mir, und dem Verkäufer über Reduzierung des Preises. Ggf. Rückerstattung.
  3. Eintreffen des Gegenstandes. In dieser Phase hat man schon fast die Lust am Gekauften verloren. Inzwischen ist einem eingefallen, dass man das Teil gar nicht mehr benötigt. Dafür etwas anders Wichtiges. Also vor dem Öffnen der Verpackung zurückschicken.

Am besten sind Käufe im entfernten China. Wenn die Wochen später im heimischen Briefkasten landen, weiß ich oft nicht mehr welchen Quatsch ich bestellt habe. Das ist dann tatsächlich wie Weihnachten. Man hat es sich im Herbst gewünscht, aber bis zum 24.12. schon wieder vergessen. Freude und Lebensqualität 2022.Ich habe doch kein Fieber? Ingrid greift an meine Stirn. Nein! Aber warum schreibe ich gerade so viel Blödsinn? Mir fällt plötzlich ein, vieles wird doch heute per Mail versandt. Also keine gute Idee, dieses Ausliefern von Post nur alle 14 Tage. Die Post ist … gekommen … hat Briefe gebracht ( nach der Melodie: „Der Mai ist gekommen…“ Habe heute Nachmittag dreiviertel Stunde geschlafen. Ein echter Nachtschlaf mit Traum und so. Nun fühle ich mich wie nach einer Operation erwacht.

Tag 3 – Sonntag danach:

Der Tag der Wahrheit. Heute, Sonntag, am 5. Tag nach der positiven Testung, will ich es wissen. Hat sich das Virus in meinem Körper so reduziert, dass es von einem Antigen-Test nicht mehr erkannt wird? Die Nacht war o. k. So lala. Ingrid hatte sich auf meine Bitte hin wieder neben mich gelegt. Doch sie fand keinen Schlaf. Das schwache Leuchten ihres E-Book-Readers stört mich sonst eigentlich nicht. Doch heute Nacht hat es mich vom Schlafen abgehalten. Eine Stunde nachdem wir zu Bett gingen, bin ich das erste Mal zur Toilette gegangen. Ich brauchte Bewegung. Ich fragte nach ihrem Befinden und sie erklärte, nicht einschlafen zu können. Um drei wurde ich erneut wach, doch da war sie verschwunden. Ausgebüchst in ihr Notquartier. Die Arme. Sicher hat sie dort mehr Ruhe. Keine Bewegung und kein Hustenlärm von mir. Denn der Hustenreiz ist noch immer präsent. Irgendwann spüre ich eine Hand auf meinem Arm. Sonntagmorgen, ein halb Zehn Uhr und ich habe fast sieben Stunden durchgeschlafen. Eine Sensation. Für mich. Draußen kämpft die Sonne gegen die Nebelschwaden und als ich den Kaffee ans Bett bringe, scheint sie der Gewinner zu sein. Es sieht nach einem schönen Tag aus. Wie viele Tage haben wir verloren, seit wir uns nur noch in Innenräumen aufhalten? Ich fühle hinein in meinen Körper. Die Ohren geben noch nicht die kompletten Umgebungsgeräusche frei. Durch die Nase lässt es sich atmen. Corona hat noch eine leichte Erkältung hinterlassen. Nach dem Frühstück werde ich mich testen. Ingrid redet schon von Wanderungen und Ausflügen ans Meer. Von Fahrradtouren. Ich habe die Jogginghose gegen eine Cargo-Hose getauscht. Als Zeichen, es ist vorbei. Überraschung: Der Test zeigt weiterhin ein positives Ergebnis an. Ich überlege, ob das vielleicht ein Joke-Test ist. Einer, der auch mit Wassertropfen noch zwei rote Balken anzeigt? Nein, die Rest-Virenlast in meinem Körper ist noch zu groß, als dass mich die Testkassette aus der Klammer von Corona entlässt. Draußen im Garten bricht sich die Sonne in den immer welker werdenden Blättern. Die Bäume werfen sie im Überlebensmodus vor der kalten Jahreszeit ab. Wie gerne würde ich das Virus abwerfen. Wie unnötiger Ballast. Im Urlaub in Südfrankreich haben wir eine kleine Palme gekauft. Circa einen Meter hoch. Sie steht auf der Terrasse. Symbol für den Süden. Langsam wird es Zeit, sie ins Haus zu holen. Es wird ihr kein Vergnügen bereiten im kalten Deutschland auf einer Terrasse zu überwintern. Aber wem macht das schon Spaß? Ich bin vom Testergebnis nicht enttäuscht. Nein. Vielleicht war es etwas blauäugig zu glauben in wenigen Tagen sei alles vorbei. Ist ja nicht wie beim Karneval. Unsere Nichte Maia war erst am zehnten Tag negativ. Vielleicht ist das mit den früheren Grippeerkrankungen zu vergleichen. Da gab es auch welche mit weniger starken Symptomen. Und andere, die dich länger im Bett hielten oder auf die Couch zwangen. Ingrid verlängert, was Wanderungen, Radtouren und sonstige Aktivitäten angeht, meine Schonzeit. Die liebende Ehefrau. Draußen macht Detlef seine BMW startklar für einen letzten Herbst-Trip. Ich würde heute vielleicht auch die letzte Tour auf dem E-Roller durch herbstliche Alleen machen. Aber mein Körper hat sichtlich etwas dagegen. Meine letzten Kräfte verliere ich beim Spiel des HSV gegen Magdeburg. Um mich nicht wieder aufzuregen, unterlasse ich jetzt und hier jegliche Kommentare darüber. Das Wetter ist wieder umgeschlagen. Nun zeigt sich die Welt trist und traurig. Ich gebe dem Virus noch 48 Stunden Zeit, sich zu verpissen. Dann mache ich einen weiteren Test und bin mir sicher, es hat sich verdünnerisiert.

Tag 4 danach – Montag

Eigentlich ist krank sein eine entspannte Sache. Vor allem, wenn man keine Beschwerden hat. Und, wenn die Krankheit nur vorübergehend ist. Mir geht es am heutigen Montagmorgen tatsächlich gut. Sicher, der Rücken … aber das lässt sich nur ändern, wenn ich das Haus wieder verlassen darf. Ich drehe ja schon meine Runden auf dem Wohnzimmerparkett. Aber die Schleifspuren, die dort im Holz entstehen…! Nein, ich glaube morgen wird alles vorbei sein. Der Test wird mich aus der Quarantäne entlassen. Einer von Mamas Lieblingssprüchen in meiner Kindheit lautete Morgen, Morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute! „Ich möchte ja raus und rennen, wandern, Fahrrad fahren!“, schreie ich laut. Ingrid schaut mich entgeistert an und denkt sicher, ich spinne. Geht es euch auch so? Ich glaube, in den 50er und 60er-Jahren sprachen unsere Eltern fast nur in Zitaten. Das war sicher auch einfacher, als sich jedes Mal aufs neue, kindererziehende Sätze auszudenken. Schon die ersten Worte haben gereicht und wir Kleinen wussten Bescheid. Heute gibt es endlose Diskussionen. Zwischen Eltern und Kleinkind. Und wer gewinnt? Natürlich das Kleinkind. Die Helikopter-Eltern haben schlechte Nerven, keine Kraft zum Streiten und geben ruckzuck auf. Anderes Thema: Der milde Herbst reißt nicht ab. Draußen Sonne pur. Bestimmt ist er genau dann zu Ende, wenn ich wieder vor die Tür kann. Dann wird es draußen kalt und nass sein. Aber es wird mich nicht davor zurückschrecken, mich zu bewegen. Die letzten Jahrzehnte hatte ich stets Ziele. Manchmal waren sie zu weit gesteckt. Andere in greifbarer Nähe. Aber ich hatte Ziele. Gerade ist es so, als bewege ich mich von der Hand in den Mund. Ihr versteht? Es ist, wie wenn beim Auto die Kompression abfällt. Da fällt mir ein, wenn die Welt ihre Fortbewegungsmittel mal komplett auf Elektroantrieb umgestellt hat, fallen ja auch diese Vergleiche weg. Dann wird man nicht mehr sagen können:  Auto fängt mit Au an und hört mit o auf. Oder doch? In den letzten Jahren ärgere ich mich immer mehr über Lärm und Abgase. Vor allem im Straßenverkehr. Ingrid schimpft dann. Sie nennt es Altersstarrsinn oder so. Als ich vor Tagen mit jemand gesprochen und mich über ein lärmendes Motorrad unten auf der Straße beschwert habe, hieß es: Wir waren doch auch mal jung. Sicher waren wir das. Aber wird der ohrenbetäubende Lärm dieser zahlreichen, speziell auf Show getrimmten Auto- und Motorräder von den Jungen produziert? Oder von den Junggebliebenen? Ich glaube tatsächlich, es sind eher die Alten, die sich produzieren. Sie lassen es, im wahrsten Sinne des Wortes noch mal richtig krachen. Die Jugend hat doch keine Zeit für solche Späße. Sie demonstrieren für den Klimaschutz, ketten sich an Gleise und kleben sich auf Straßen und in den Museen fest. Doch die Polizei stört diese motorunterstützte Krawallmacher ja kaum. In Hamburg vielleicht. Dort richtete man eine spezielle Sondereinheit namens ,Poser‘ ein. Aber hier in unserer kleinen Stadt? Die letzte Blitzerbox, die man in Oldesloe aufgestellt hat, das muss Ende der 50er-Jahre gewesen sein. Die Apparatur bestand noch aus einem Kasten von der Größe eines Fernsehers und einer Kamera mit Blitz, die sich mittels Dreibein-Stativ auf den wackligen Beinen hielt. Also lang, lang ist es her. Auch Verkehrskontrollen finden hier eher selten statt. Zumindest nicht, dass ich davon wüsste. Nein, ich sollte mich nicht aufregen. Bin ja noch angeschlagen. Ingrid sieht das anders. Ist vielleicht so ein Altersding. Den Fahrzeuglärm, meine ich. Und der funktioniert wohl nur bei Männern. Wie dem auch sei, erschreckt es die Mitmenschen. Und da es im Vorbeifahren und bei Zweiradfahrern anonym unter Helmen geschieht, kann man den Deppen noch nicht einmal zur Rechenschaft ziehen. Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu, hätte unsere Mutter argumentiert. Und wenn die Industrie auch noch Systeme anbietet, um Motorenlärm zu erhöhen und Abgassysteme zu umgehen… was will man da sagen? In näherer Nachbarschaft sind hin und wieder zwei solcher Lärmmobile zu hören. Als ob Michael Manousakis von den Steel Buddies den Neunzylinder seiner russische Antonow AN-2 startet. Muss ich mir auch nicht geben. Aber Themenwechsel! Corona, so glaube ich, ist ein Mix aus allen Beschwerden, die der Körper so zu bieten hat. Bunt gemischt und bei jedem individuell. Was ist eigentlich aus den Medikamenten gegen Corona geworden, die der Gesundheitsminister millionenfach eingekauft hat, frage ich Ingrid? Sie hat keine Antwort für mich. Meint, ich solle zum Arzt gehen und sie mir verschreiben lassen. Aber das stellt doch das erste Problem dar. Bei einer Coronainfektion möchte mich doch kein Arzt in seine Praxis hineinlassen. Dann rufe halt an, die schicken die Rezepte doch per Post, kontert meine liebe Frau. Auch nicht so einfach, gebe ich zurück. Da hängst du stundenlang in der Warteschleife. Wie so viele andere während der Corona-Epidemie haben es auch die Ärzte geschafft, die über die Jahre eingerissenen schlechten Angewohnheiten abstellen zu können. Zu Lasten der Patienten. Arzthelferin Ingrid meint, es wurde auch Zeit. Der überwiegende Teil der Patienten bestände eh bloß aus Rentner und Rentnerinnen, die die Praxen mit mehr oder weniger fadenscheinigen Krankheiten belagern würden. Aus Langeweile und auf der Suche nach Kommunikation. Ich gebe mich geschlagen. Wie hat Mama immer gesagt: Der Klügere gibt nach.

Tag 5 danach – Dienstag

Der Antigen-Test liegt schon ausgepackt auf dem Esszimmertisch herum. Ähnlich einem Lottoschein, der meine Hoffnung auf eine Million Euro Gewinn am Köcheln hält. Der Hersteller hat ein Teststäbchen eingepackt, das ist sooooo lang, damit ließe sich der Test auch bei einer Giraffe bis ins Hirn schieben. Das ewig lange Teil suggeriert mir, je tiefer, je sicherer. Aber ich warte noch. Erst frühstücken. Nichts überstürzen. Der Test ist ja nur subjektiv. Er zeigt nicht meine Gefühlslage an und deckt nicht meine noch immer anhaltenden Beschwerden auf. Im Hamburger Abendblatt schreiben sie heute von einer ,Twindemie‘. Corona und Grippe in Kombination. ,Corippe‘ sozusagen. Es macht mir schon Angst, dass statt endgültiger Abhilfe immer mehr Abarten des Virus hinzukommen. Im nächsten Jahr, denke ich mit Entsetzen, kommt vielleicht noch etwas Neues hinzu und die Viren tanzen dann im Trio. In meinem Körper. Unerlaubt. Dagegen sind die aktuellen Politik-News eher zum Amüsieren. Nein, nicht darüber nachdenken. Gesundheit ist gerade der Schlüssel. Auch das Wetter spielt verrückt. Ich überlege, ob es schön wäre, in Deutschland dauerhaft Sommer haben zu können. So wie in den vier Jahren, die unsere Familie in den 80ern in Portugal verbringen durfte. Damals lebten wir weit entfernt von der Republik. Waren sogar vor der Tschernobyl-Katastrophe relativ sicher. Das Corona-Virus hat aber auch leider Portugal heimgesucht. Es würde mir tatsächlich gefallen, ständig in einer 3/4 langen Hose rumlaufen zu können. Außer an den etwas kühleren Tage über den Jahreswechsel in Südeuropa. Sicher könnte ich mir das vorstellen. Ingrid tendiert eher zu milden Wintern in der Heimat. Schnee nur an Heiligabend und den beiden Weihnachtsfeiertagen. Jedem das seine. Nein, leider trifft das nicht zu. Ich werde übermütig. Ingrid spricht sogar von renitent. Wäre eine Begleiterscheinung der Genesung, erklärt sie mit kritischem Blick.

Der Briefträger läuft gerade am Fenster vorbei. Nein, nur zu den Nachbarn. Ich erkenne nur den unteren Teil. Die nackten Beine. Der Rest ist vollgepackt mit Paketen. Ist es nicht an der Zeit, unser Konsumverhalten zu verändern? Es macht doch keinerlei Sinn, den konsumgestörten Bundesbürger von Paketzustellern therapieren zu lassen. Hatten wir uns nicht mal auf die Fahne geschrieben, nur noch Regionales kaufen zu wollen? Doch inzwischen schleppt der Paketbote palettenweise bayerisches Bier in die norddeutschen Haushalte. Obwohl das inzwischen jeder gute Getränke-Markt anbietet. Also nicht dass ihr meint, wir … nein, so weit sind wir noch nicht. Die Petersilie von Fleurop schicken lassen, reicht. 😉 ich gestehe, ich bin das lebende Beispiel für Rückzieher. Das schlechte Gewissen ist schnell wieder getauscht gegen den Standard. Ja, Vorsätze! Was aus dem Corona-Test geworden ist, wollt ihr wissen? Der liegt gut und trocken auf dem Tisch. Hat doch Zeit!

Aber nein, los gehts. Nach wenigen Minuten ist es offiziell: Meine Leidenszeit ist laut Testergebnis vorüber. Auch visuell. Ab heute darf ich wieder vor die Tür. Muss mich nicht mehr verstecken. Ingrid und ich werden gleich aufbrechen zu einem Spaziergang. Ich hätte mir ein T-Shirt drucken lassen sollen. Zeit genug hatte ich ja. Text: Die Leidenszeit ist vorbei! Oder vielleicht Frei-Getestet! Keine Ahnung. Irgend so was. Ärgerlich. Damit könnte ich jetzt glänzen. Vielleicht sollten wir Schutzmasken in verschiedenen Farben produzieren? In Bronze für einmal von Corona genesen? In Gold für dreimal überstanden? Ich finde, diese Leidenszeit wird nicht angemessen gewürdigt. Weder vom Staat noch von einem selber. Sicher ist man froh darüber wieder gesund zu sein. Aber so ging es mir auch nach jeder simplen Grippe. Bin ich jetzt dem Sensenmann vom Spaten gehüpft? Ich bin mir sicher, ohne die Impfungen wäre es nicht so glimpflich abgegangen. Was ist eigentlich aus den Corona-Leugnern geworden? Verstorben? Jetzt übertreiben sie aber!

Ich öffne die Haustür, trete heraus. Rieche die seit Tagen unbekannte Freiheit. Ingrid schlägt einen kurzen Spaziergang vor. Ich stimme zu. Wenn schon Freiheit, dann richtig. Erst möchte meine liebe Frau zum ALDI spazieren (drei Kilometer Fußstrecke), dann zum LIDL (zwei Kilometer) um eine Kleinigkeit einzukaufen. Ich schlage das Kaufland vor. Es liegt quasi auf der anderen Straßenseite. Sie erzählt von fehlender Bewegung und dem Verlust von Gesundheit und davon, nur durch die Botanik laufen zu wollen. Schlechtes Gewissen überkommt mich. Ich gebe auf. Ziehe Funktionsunterwäsche an. Draußen ist es halt Herbst. Meine liebe Gattin schnallt einen riesigen Rucksack um. Wie ein Fallschirm. Sieht nicht nach Einkaufen von Kleinigkeiten aus. Der Weg durch den Wald zum LIDL hat einen kleinen Höhenunterschied, der mir vorkommt, wie Messners letzte Besteigung der Seven Summits. Ingrid ist eher außer Puste als ich. Das spornt mich an. Beim LIDL angekommen, warte ich seitlich des Discounter-Parkplatzes, bis meine Ehefrau fertig eingekauft hat. Sie erscheint Minuten später mit einem prall gefüllten Rucksack. Sogar die Spoiler hat sie noch ausgefahren. Damit alles Platz findet. Ich kenne das. Vorsatz ist es nur Butter zu kaufen und anschließend helfen einem zwei Discounter-Mitarbeiter, den schweren Einkaufswagen zum Fahrzeug zu schieben. Ich trage die Blumen.

Mittwoch danach – Ende gut! Alles gut?

Corona ade! Ich möchte dich nie wiedersehen! Wärst du ein Mensch, der mich enttäuscht hat, könnte ich zukünftig und dauerhaft auf dich verzichten. Ingrid und ich sprechen wieder über die Zukunft. Wir müssen uns eine Strategie ausdenken. Weniger Kontakte. Mehr Schutz durch Abstand. Öfter die Maske anziehen. Aber sicher wird der Moment kommen, wo man doch unvorsichtig ist. Und genau da nutzt das Virus seine Chance. Darin liegt seine Gefahr. Wie eine Schlange, die sich lange regungslos im Gras versteckt, bevor sie im geeigneten Moment zuschlägt. Können wir anderen bisher verschont Gebliebenen nach unserer Infektion etwas raten? Nein, eher nicht. Es ist nicht die Anpreisung eines Fahrzeugs, dass man jahrelang besessen hat und deren positive oder negative Eigenschaften man empfehlen kann. Als Kind hat man über unsere Köpfe hinweg entschieden, uns zu impfen. Kinderlähmung, Windpocken, Diphtherie und was weiß ich für Impfstoffe wurden in uns unschuldige kleine Lebewesen hineingepumpt. Im Nachhinein, 60 Jahre später, kann ich sagen, ich bin nie an den aufgezählten Krankheiten erkrankt. Vielleicht wäre ich es auch ohne Impfung nicht. Vielleicht würde ich auch ohne Anlegen eines Sicherheitsgurtes einen schweren Autounfall überleben? Mein verstorbener Freund und Ingrids Bruder Ewald wurde in den 70er-Jahren bei einem Autounfall aus seinem Cabrio herausgeschleudert. Und hat alles unverletzt überstanden. Wäre es mit Gurt anders gekommen? Wobei wir wieder bei ,Hätte und Fahrradkette‘ wären. Ich habe vorher gezweifelt. Auch jetzt nach der Erkrankung, bin ich mir nicht sicher, wie es weitergeht. Thema: Long Covid. Doch eines ist sicher, ohne Zukunft macht die Gegenwart keinen Sinn. Und die Zukunft sind die Kinder, der Enkel. Dafür müssen alle körperlichen Kräfte aufgeboten werden, um noch so lange, wie wir gesund und geistig präsent sind, auf dieser schönen Erde bleiben zu dürfen. Seit Jahren versucht man uns den Blauen Planeten schlecht zu reden. Aber er ist doch gar nicht so übel, wie man ihn oft darstellt. Nein. Als kleiner Junge im Saarland der Sechziger habe ich mal geträumt, ich lebte auf einer Insel. Wie Huckleberry Finn  und Tom Sawyer, meine damaligen Helden.  Das Saarland war klein und heimelig und es ließ sich gut als Insel wahrnehmen. Heute leben wir im riesigen Europa. Global ist das Zauberwort. Wir schauen mit unseren kleinen Beinen über Landesgrenzen hinweg. Es ist eine andere Perspektive als in meiner Kindheit. Aber auch eine andere Wahrnehmung. Ich könnte auch heute gut wieder im kleinen Saarland leben. Ohne die tägliche Berieselung von News aus Europa oder vom Weltgeschehen. Es würde mir reichen zu hören, wenn in Saarlouis ein Sack Reis umgefallen ist. Umgestürzte Reissäcke in China interessieren mich da eher weniger. Ich habe viel Fern gesehen, während der Krankheit. Mehr als sonst. Talkshows, Serien, Fußballspiele. Das Angebot ist riesig. Von zwei Sendern in meiner Kindheit habe ich jetzt die Qual der Wahl. Wobei viel und oft über den Krieg in der Ukraine berichtet haben. Was mir im Ohr geblieben ist, ist die Forderung der ukrainischen Führung nach (noch) mehr Waffen. Vielleicht sollte die Bundesregierung unsere Geheimwaffe dauerhaft nach Kiew senden. M.A.S.Z.: Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Wenn das nicht hilft, hilft nichts. 😉

Lieben Dank, allen die zugehört und meine Tagebucheintragungen gelesen haben. Ich hab mich während dieser Infektion mit dem Tagebuch gesundgeschrieben und vor allem davon abgelenkt. Hinter all den Sätzen verbirgt sich einzig und alleine meine Meinung. Ich möchte nicht zwingend etwas verändern. Dafür sind andere gewählt und im Amt. Aber wir alle zusammen ergeben das Ganze. Der dümmste Spruch, den ich gerade gehört habe, lautet: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht! In diesem Sinne wünsche ich euch, bleibt fern vom Corona-Virus, und wenn sie euch doch trifft, macht das Beste daraus. Und immer daran denken, was ,Kapelle Petra‘ so treffsicher singt: Heut ist noch nicht Schicht (im Schacht)

Euer Krimi-Autor

Klaus E. Spieldenner