TEIL I: Tag 7 (vor meinem offiziellen Corona-Testergebnis)

Tag 7 (vor dem offiziellen Corona-Testergebnis)

Heute ist Freitag und am morgigen Samstag planen Sohn Jan und Schwiegertochter Chao einen Besuch bei uns in Bad Oldesloe. Ingrid erklärt mir beim Frühstück, sie fühle sich nicht ganz wohl. Eine äußerst seltene Offenbarung. In der nächsten Zeit lenkt sich meine liebe Gattin mit der Planung des familiären Abendessens ab. Ich habe Oktoberfestbier besorgt. Jan, Chao und ich werden es uns schmecken lassen. Ingrid ist kein Bier-Fan. Für sie steht französischer Crémant bereit.
Ja, es geht uns gut!
Nachmittags machen Ingrid und ich einen Spaziergang. Wie immer laufe ich zu schnell und sie beschwert sich. Und wie so oft frotzele ich , das ich über zwanzig cm größer sei und bei ihrem Tempo umfallen werde. Aber dieses Mal klingt ihre Beschwerde und das drum Herum anders. Sie schnauft! Dabei sind wir nicht im Gebirge unterwegs. Ich spüre, da braut sich tatsächlich etwas zusammen. Abends, vor dem Fernseher, taucht sie plötzlich mit einem Eimer auf. Ich weiß, was das bedeutet. Nach 45 Jahren Ehe bemerkt man Veränderungen am Partner schon, bevor sie eintreten. Schweigend stellt sie das graue Plastikgefäß vor die Couch. Der Eimer fasst zehn Liter. Mir schaudert! Ich frage nicht nach. Ingrids Blick sagt mir alles.

Als ich meine Frau im Jahr 1972 kennenlernte, hatte sie, nach Realschulabschluss, gerade im saarländischen Völklingen eine Lehre zur Arzthelferin begonnen. Einen Beruf, der zu ihrem großen Herzen und ihrer riesigen Fürsorgebereitschaft passte. Obwohl unsere spätere Hochzeit verhindert hat, dass sie ihr eigentliches Ziel, MTA zu werden, dafür aufgeben musste. Die Schuld daran habe ich abgearbeitet, denke ich.

Wir schauen die Serie ,Goliath‘ mit Billy Bob Thornton. Thornton, alias Billy McBride, kämpft darin als Anwalt für Gerechtigkeit. Der Eimer vor der Couch stört etwas die Atmosphäre. Ingrid greift nach einer Wolldecke. Es wird ernst. Als noch eine Schachtel Papiertaschentücher auf dem Couchtisch landet und Ingrid regelmäßig davon gebraucht macht bin ich mir sicher, sie wird tatsächlich krank.

Arzthelferinnen haben sich den Patienten und deren Wohl verschrieben.

Paragraf 1: Arzthelferinnen werden nicht krank.

Paragraf 2: Sollten Sie tatsächlich krank werden, tritt automatisch Paragraf 1 in Kraft.

Ingrid niest und schnupft und entschuldigt sich mit belegter Stimme für eine aufkommende Grippe. Der Wechsel von der gesunden zur kranken Ehefrau hat sich innerhalb von Minuten vollzogen. Ich spüre selbst erste Beschwerden. Ich gebe zu, ich bin ein kleiner Hypochonder, steigere mich also gerne in etwas Derartiges hinein. Mir fällt ein alter Witz ein:

Krankenschwester zum Arzt: „Der Simulant von Zimmer 7 ist gestorben!“

Arzt: „Jetzt übertreibt er aber!“

Ingrid meint: „Corona ist es nicht, eher eine Grippe!“ Die Aussage klingt wie der Plan des Insassen eines Hochsicherheitstraktes aus dem Gefängnis fliehen zu wollen.

Zum ersten Mal ist das verhängnisvolle C-Wort gefallen: CORONA!

Der Eimer wandert mit ins Schlafzimmer. Zum Glück ist es bisher nicht zum Äußersten gekommen. In der Nacht, bevor ich selber einschlafe, höre ich Ingrid beim Atmen zu.

Ingrids Atmung ist extrem anders als sonst. Im zwei Sekunden Takt atmet sie ein und aus. Das beängstigt mich. Atmung ist nicht unwichtig. Als kleiner Junge, wenn ich nachts aufwachte, konnte ich nur wieder einschlafen, wenn ich mich vergewissert hatte, dass meine Eltern auch atmeten. Die dünnen Wände im Überherrner Bungalow ließen das zu.

Fernsehbilder aus Bergamo im Jahr 2020 wechseln in meinem Kopf mit Corona-Statistiken und endlosen Pressekonferenzen von Spahn und Wieler. Die ganze Situation zieht mich hinunter. Um meine Lebensqualität wieder über die kritische 50-Prozent-Marke zu bekommen, entschließe ich mich noch in der Nacht, die Ibanez SC-420 zu kaufen, die in Kleinanzeigen angeboten wird. Die gleiche piano-schwarze E-Gitarre habe ich mit großer Freude von 2003 bis 2006 bei der Leeraner Band „Blue Sound„ gespielt.