TEIL II – Tag 6 (vor dem offiziellen Corona-Testergebnis)

Tag 6 (vor dem offiziellen Corona-Testergebnis)

An diesem Samstagmorgen geht es Ingrid nicht besser. Das Gegenteil ist der Fall. Mir ist klar, sie hat zu ihrer Infektion kaum und wenn, dann schlecht geschlafen. Das entzieht dem Körper weitere wichtige Kräfte. Sie selbst streitet eine Verschlechterung ihres Zustands vehement ab. Ich hole, wie sonst auch, zwei Tassen Kaffee ans Bett. Wir schauen fern. Sie trinkt nur wenig von der schwarzen Brühe. Den Rest lässt sie stehen. Das gab es, soweit ich zurückdenken kann, in unseren gemeinsamen Ruhestandstagen nie zuvor. Auch mir fällt das Atmen etwas schwerer. Einbildung? Wir entschließen uns, den Besuch der Kinder abzusagen. Zu schwer wiegt der Gedanke daran, sie vielleicht anstecken zu können. Ingrid liegt schon früh am Morgen auf dem Sofa, hat die Liege-Funktion hochgefahren und sich in eine Wolldecke eingewickelt. Hunger hat sie auf meine Nachfrage hin nicht. Sie ist eingeschlafen. Leise schleiche ich mich aus dem Haus und gehe einkaufen. Nicht meine Lieblingsbeschäftigung, aber das nützt jetzt nichts. Verhungern wollen wir ja nicht. Brot ist im Angebot, 1,11€ der Laib. Sieht auch nach Brot aus. Ich greife zu. Mir ist bewusst, dass der Kauf nicht Ingrids Zustimmung treffen wird. Sie mag die Brote vom Discounter nicht. Doch da muss sie durch. Ich kaufe noch ihren Lieblingsjoghurt, Froop. Und Grieß-Pudding (ich liebe Grießpudding). Dazu ein Wiesn-Hendl, obwohl das Münchner Oktoberfest schon vorüber ist. Im Laden, an der Kassierer losen automatischen Kasse, gebe ich aus Unwissenheit die falsche Brotbezeichnung ein (warum können Brote nicht A,B,C heißen, sondern Roggenmischbrot nach Herzogenauracher Art oder Limburger Mischbrot Kaiser Wilhelm?) Der dämliche Automat möchte mir für den Laib 2,79 € statt 1,11 € abnehmen. Ich überlege, ob es die Differenz von 1,68 € wert ist, den Einkauf von einer Angestellten annullieren zu lassen und das Brot danach neu einzugeben. Den wartenden Kunden hinter mit sehe ich an, dass ihnen die Variante, bei der ich knapp zwei Euro einbüßen würde, lieber wäre. Ich entscheide mich fürs Sparen und halte Ausschau nach Unterstützung. Zum Glück kommt aus den dunklen Gängen des Ladens eine uniformierte Verkäuferin auf mich zu. Ich bitte sie um Hilfe. Sie erklärt genervt, sie sei zwar noch nicht im Dienst, wolle aber trotzdem helfen. Sicher haben die ungeduldigen Blicke der wartenden Käufer ihre Entscheidung stark beeinflusst. Die Hilfsaktion läuft verbal etwas aus dem Ruder und ich bin mir sicher, dass ich ihr den Arbeitsbeginn wesentlich vermiest habe. „Tut mir leid, junge Frau. Ich habe eine kranke Ehefrau zu Hause“, entschuldige ich mich gedanklich und zu spät auf dem Rückweg. Natürlich ist dies nur eine Ausrede.
Die Kinder melden sich. Möchten wissen, wie es der Mutter geht. Ingrid gibt ein kurzes Statement ab. Ich übernehme das Telefon. Die Gretchenfrage der Tochter, ob ihre Mutter schon einen Corona Test durchgeführt hat, kann ich nicht bestätigen. Noch immer hat Ingrid Hoffnung auf eine der früheren legendären Grippe-Erkrankungen.

Am Abend entschließt sich meine Gattin, einen Corona-Test durchzuführen. Wir sind sehr unerfahren damit. Bisher von jeglicher Corona Erkrankung verschont, hatten wir tatsächlich nie Erfahrungen mit einem PCR-Test. Auch unsere durchgeführten Antigen-Tests kann man an den Fingern einer Hand abzählen. Glück gehabt? Kann man Glück haben? Oder ist es Schicksal, wenn man überlebt oder von irgendetwas Schlimmen verschont bleibt. Wir lesen uns durch die Kleinstschrift der Anleitung. Sie ist trotz Lesebrille kaum zu dechiffrieren. Ob das Absicht ist? Oder schon ein Teil der bundesweit von der Ampel-Koalition angestoßenen Energieeinsparung. Meine Idee: Die Aufregung über das Unvermögen, die Worte zu entziffern, bringt uns zur Weißglut. Was wiederum der Wohnzimmer-Temperatur zu Gute kommt. Nein, ich erkenne keinen plausiblen Grund. Obwohl liebe Pharmaindustrie: Müssen tatsächlich ein Dutzend Sprachen auf den Beipackzettel?) Die aufgemalten Symbole sind nur begrenzt hilfreich. Irgendwie fehlt mir auch jegliche Motivation, mich dabei einzubringen. Auch der Gedanke, die Vergrößerungsfunktion des Handys zu nutzen, fällt mir nicht ein. Endlich, Ingrid hat fertig (gelesen). Sie schiebt sich zögerlich und eher lustlos die Q Tip-ähnliche Stange in die Nase. Für meine Verhältnisse gibt sie zu früh auf. Sie packt das Teil in die Flüssigkeit. Drei Tropfen, die zur Wahrheit führen. O’ zapft is!

Es erscheint auf der bestimmt aus umweltrecycelten Baby-Windeln hergestellten Testkassette nur ein roter Balken. Ingrid erklärt sich euphorisch und voller Erleichterung für Corona frei. Ich plädiere für Corona. Der Balken steht auf dem C! C, wie Corona, denke ich. Bei Überprüfung stellt sich heraus, C steht für Control. Ingrid hat recht. Zumindest was dieses Ergebnis angeht, ist eine Corona Infektion bei ihr momentan noch nicht nachgewiesen. Später stellt sie fest, dass die Corona-Testpackung schon vor einem Jahr abgelaufen war. Wir ergeben uns in unser Schicksal.

Ich packe das Wiesen Hendl in den Backofen. Habe großen Hunger. Ingrid nicht. Sie probiert später einige der beigelegten Kartoffeln, gibt aber schnell auf. Ungewöhnlich. Wir packen uns zurück auf die Couch. Mein Rücken schmerzt schon vom Liegen. Die seit Wochen und Monate schlechte Nachrichtlage der Tagesschau trägt nicht zur Reduzierung unserer Ängste bei. Zum Glück hat Billy Bob Thornton die Verhandlung gewonnen und zur Wahrheitsfindung wesentlich beigetragen. Für uns steht das noch bevor.

Ingrid reaktiviert das Gästebett in ihrem Nähzimmer und wandert aus. Alleine gelassen fühle ich mich noch unwohler als mit der kranken Ehefrau an meiner Seite. Es erinnert mich etwas an meinen einsamen Krankenhausaufenthalt 2019 wegen des Verdachts auf Schlaganfall. Zum Glück waren die drei Tage auf der Stroke Unit unbegründet.

Weiter im Teil III