Tag 4 (vor dem offiziellen Corona-Testergebnis)
Die zweite Nacht alleine im Bett liegt hinter mir. Ich spüre gesundheitliche Veränderungen und nicht nur der Rücken schmerzt vom dauernden Rumliegen. Mir ist klar geworden, dass ich bei unserer wohnlichen Situation einer Infektion kaum entgehen kann. Aber möchte ich das? Das Virus flattert gerade hier in dem vielleicht 250 Kubikmeter großen Rauminhalt unserer Wohnung umher. Doch unsichtbar für uns beide und das macht es so gefährlich. Ingrid und ich gehen uns aus dem Weg. Sie hustet und ich ergreife die Flucht. Aber weit komme ich nicht. Maximal bis auf die Terrasse. In den Medien wird von schlauen Epidemiologen ständig von einer Durchseuchung der Bevölkerung gesprochen. Dazu sollte auch ich gehören, denke ich. Aber was, wenn es schief geht? Wenn ich mich mit einem Tubus im Hals auf der Intensivstation wiederfinde? Ich bin Privatpatient. Vielleicht hat das ja irgendwelche Vorteile. Aber Ingrid? Als Kassenpatientin? Ich verdränge die Gedanken. Mache Frühstück. Ingrid geht es nach einem Brot und einem Glas Saft schon besser. Sie erklärt sich fast schon für gesund. Was hat zu dieser wundersamen Genesung geführt? Die Scheibe Brot oder das Glas mit dem O Saft? Aber ihre Augen sehen weiterhin krank aus und ich weiß, sie möchte sich die Blöße und Niederlage einer Infektion nicht geben. Wer zwei Kinder geboren hat, den zwingt Corona nicht so schnell in die Knie. Ist das der Gedanke der dahinter steckt? Oder das Arzthelferinnen-Syndrom? Wir erklären Tochter Suzanne und Sohn Jan per WhatsApp, alles sei so weit gut. Ich gehe einkaufen. Zum ersten Mal seit Monaten wieder mit Maske, laufe ich zwischen den prall gefüllten Regalen umher. Andere Maskenträger und Maskenträgerinnen habe ich die letzten Monate stets belächelt. Nun wird mir bewusst, was der Grund für sie gewesen sein könnte, eine zu tragen. Ich schäme mich etwas. Als Trost gönne ich mir eine Flasche Coca-Cola. Schon gefühlt zwei Jahrzehnte ist es her, dass ich als junger Mensch die geliebte dunkle Flüssigkeit getrunken habe. Vor Jahren, einige Pfunde Bauchspeck zu viel, hatte ich mir vorgenommen, auf unnötig Süßes zu verzichten. Und den Konsum von Cola und anderen kalorienreichen Getränken dauerhaft eingestellt. Nun muss es halt sein. Man gönnt sich ja sonst nichts! Das Getränk hat meine Jugend im Saarland mitgeprägt. Tatsächlich. Ebenso süße Berliner und Zigaretten. Diese schöne Zeit und die unglaublich tollen Jugenderlebnisse im saarländischen Überherrn, bringen mir den leicht verloren gegangenen Glauben an eine rosige Zukunft wieder zurück. Zumindest zeitweise. Als er klein war erzähle ich Enkel Joris, dass ich als Kind nur drei Wünsche hatte: Eine Liter-Flasche Coca-Cola leerzutrinken. Drei Berliner nacheinander aufzuessen. Und ein Glas Nutella leer zu naschen. Dann lachte er immer so süß und sagt: „Ach, Opi!“ Die Cola schmeckt unglaublich. Aber ich spüre auch, dass es nach einem Kaffee zuvor meinem angeschlagenen Kreislauf nicht sonderlich gut tut. Ich beschränke mein erstes kulinarisches Cola-Erlebnis seit Jahren auf ein einziges Glas. Ingrid sitzt schon wieder an der Nähmaschine. Das monotone Geräusch des Motors vermittelt etwas von häuslicher Normalität. Ich quäle mich unterdessen auf dem Fernsehsessel rum. Mein Rücken schmerzt. Im Geiste erstelle ich eine Tabelle mit allen Infektions- und krankheitsbedingten Eventualitäten. Also den Symptomen, von deren Auftreten ich in die beiden letzten Jahre während einer Corona-Infektion gehört habe. Ich setzte einen virtuellen Haken bei meinen aktuellen Beschwerden. Was habe ich schon. Was habe ich hinter mir. Was kommt noch. So vermute ich mich stets auf einem aktuellen Stand, was meine Infektion betrifft. Die bestellte Gitarre wird laut DHL-Sendungsnummer morgen geliefert. Gibt es einen Morgen? Ja, es gibt immer einen Morgen.
Ich huste inzwischen. Typische Anzeichen für Corona und ein Haken mehr auf meiner Liste der „Hatte-ich-schon-Beschwerden“! Meine Temperatur beträgt um die 38 Grad, nichts Beängstigendes. Ich stehe auf. Tausche die Jeans gegen eine Jogginghose. Eigentlich mag ich keine Jogginghosen und gebe Karl Lagerfeld recht, dass, wer dauerhaft Jogginghosen trägt, die Kontrolle über sein Leben verloren hat. Unser Leben ist auch gerade außer Kontrolle geraten. Zum Glück nicht dauerhaft. Die Baumwollhose ist bequemer und Blutstau vom dauernden Liegen muss ja nicht zwingend sein. Die Rückenschmerzen mischen sich nun mit Kopfschmerzen. Ich erwäge, eine Aspirin Complex zu nehmen. Ingrid lehnt ab. Ich schaue eine Sendung im Fernsehen und weiß schon heute, drei Tage danach, nicht mehr, um was es ging. Der Tag ist abgelaufen wie im Fluge. Die Zeit hängt gerade etwas in Schieflage. Wie auf Salvatore Dalis Werk ,Die Beständigkeit der Erinnerung‘. Nur, dass statt der Fliege das Corona -Virus auf dem von Dali gemalten Ziffernblatt sitzt.
Gegen 21 Uhr halte ich es nicht mehr aus und verabschiede mich ins Bett. Ich nehme die gewünschte Aspirin und schlafe sofort ein.
Weiter mit Teil IV