TEIL IX- Tag 2 (nach offizieller Bestätigung der Corona-Infektion)

Tag 2 – Samstag danach

Ich werde hustend wach. Erst denke ich, ich träume. Als mir aber langsam die Luft wegbleibt, reagiert der Körper zum Glück automatisch. Bestimmt habe ich Speichel eingeatmet. Möglich wäre es. Die Nase ist dicht. Dann bleibt im Schlaf nur noch die Atmung durch den Mund und das ist bei mir der wunde Punkt. Es dauert annähernd eine Viertelstunde, bis sich alles beruhigt hat. Mein Hals schmerzt. Vom Husten. Corona ist immer für eine Überraschung gut. Ich weiß. Auch, dass ich geträumt habe. Ich versuche mich zu erinnern. Vergebens. Träume sind Schäume. Ingrid ist Gott sei Dank von der Husterei nicht wach geworden. Ich mache kurz Licht: Drei Uhr am Morgen. Der komplette Schlafrhythmus ist durcheinander. Wie ein Orchester, dessen Dirigent gegen den eigentlichen Takt arbeitet. Die Nase war schon immer mein wunder Punkt (sagte ich es nicht schon?). Eine HNO-Ärztin hatte mich Ende der 90er-Jahre fast mal so weit, die Nasenscheidewand operieren zu lassen. Dann stellte sich heraus, sie wollte diesen medizinischen Eingriff an fast allen ihren Patienten durchführen. Grund: Sie hatte Belegbetten in der Klinik und die mussten befüllt werden. Noch mal gut gegangen! Der Reizhusten hört einfach nicht auf. Ich hoffe, Ingrid wird nicht wach. Ich lenke mich ab, in dem ich diese Sätze formuliere. Das Leben ist schon eine komplexe Sache. Und wenn man so wie ich gerade 67 Jahre alt im Bett liegt, dann muss man dankbar sein, dass es einem noch gibt. Und das man morgens noch wach wird. Ein Hustenanfall und … nein, nicht daran zu denken. Auf der Suche nach einem Papiertaschentuch fällt die Schachtel mit dem Fieberthermometer auf den Boden. Ein Höllenlärm. Ich höre ins Dunkel. Alles bleibt ruhig. Eigentlich sollte ich wieder aufstehen, nach unten gehen. Und dann? Ich horche in meinen Körper. Wo stehe ich momentan. Starkes Stechen im Kopf. Kommt vom Liegen. Leichte bis mittlere Rückenbeschwerden. Dito. Nase zu. Na wenigstens etwas, was ich Corona in die Schuhe schieben kann. Der Husten. Sicher auch. Temperatur fühlt sich gut an. Ich schwitze nicht. Ingrid hat mir den MARKT neben das Bett gelegt. Inklusive  Werbung. Ich blättere lustlos darin rum. Oh, Froof sind im Angebot. Muss ich weitergeben. Es ist zu früh, um sich schon Gedanken über den Tagesablauf zu machen. Ich lege mich wieder auf den Bauch und bin bald eingeschlafen.
Ingrid steht plötzlich im Schlafzimmer. Ich schaue auf den phosphoreszierenden Zeiger der Uhr: 4:47 Uhr. Ich hab etwas geschlafen. Sie fragt nach meinem Befinden. Schlaftrunken erkläre ich mich für sorgenfrei. Also, was ihre Ängste betrifft. Ihr geht es auch gut, bestätigt sie, bevor sie ins Bett verschwindet.
Ich träume von einer Dating-App, die von Facebook betrieben wird. Die Match-Gewinner können sich dann all die veröffentlichten Fotos der Facebook-User anschauen. Wie komme ich auf so einen Mist? Werde morgen Mark (Zuckerberg) meine Idee zukommen lassen. Eine Dating-Revolution, hervorgerufen durch Corona-Fantasien. Ingrid erschreckt mich kurz vor neun. Ihr Kaffeedurst treibt sie zu diesem Entschluss. Ich stimme zu und während sie sich die Zähne putzt, besorge ich Kaffee. Samstags gibt es im Fernsehen kein Morgenmagazin. Also schauen wir irgendeinen Dritt-Sender. Eine junge Ahrensburgerin ist mit zwei Pferden und einer Ziege zum Bodensee unterwegs. Eine Wahnsinnsidee, denke ich und teile Ingrid mit: „Wenn sie am Ziel angekommen ist, schreibt sie sicher ein Buch!“
„Wenn ich beim Bodensee angekommen bin, schreibe ich ein Buch!“, erklärt die junge Frau strahlend vor ihrem Iglu sitzend in die Kamera. Ich kann Gedanken lesen und versuche mich an den Lottozahlen der nächsten Woche. Ingrid schaut im Handy nach Nachrichten. Gute brauchen wir aktuell. Keine, die auf noch mehr Ärger hindeuten. Heute fliegen Enkel Joris und sein Papa zurück von Irland nach Hamburg. Hoffentlich geht alles gut. Streiken die bei Eurowings eigentlich noch? Seltsam, dass sich in diesem Land immer irgendwelche Arbeitnehmer im Streik befinden müssen. Warum mehr Geld, man kann doch gerade kaum etwas ausgeben. Außer für Energie. Und da will uns die Regierung ja unterstützen. Egal, was kümmert es mich. Erst mal muss das Virus aus meinem Körper. Ingrid macht Essenspläne fürs Wochenende. Mir ist schlecht von den ganzen Vorschlägen: Pizza, Nudeln, Hähnchen. Eigentlich müssten mir bald die Hosen mit Größe 32 wieder passen, wenn das so weitergeht. Es ist Samstag. Keiner der Schönsten. Alles feucht draußen, klamm. Die Wolken hängen tief. Das beste Wetter, um krank zu sein, denke ich. Als Jugendlicher liebte ich solche Tage. Habe mir fünf Bücher unters Bett gelegt und gebetet, dass die Körpertemperatur noch lange um die 38 Grad bleibt. Angst machte mir damals alles, was um die 40 Grad lag: Fieber! Da fantasierte ich auf Teufel komm raus. Ich stürzte dann immer in die Tiefe. Unter mir eine dunkle Öffnung und meine Eltern kamen auf meine Schreie hin ängstlich an mein Bett gerannt. Anfänglich verabreichten sie ein Medikament das u. a. den Wirkstoff Chinin enthielt. Doch Chinin vertrug ich nicht. Dann kam zu dem freien Fall und dem riesigen Loch noch jede Menge weiterer Ungemach. Da war mir erhöhte Temperatur lieber. Die regte zwar auch die Fantasie an, aber es gab dabei keine Abstürze. Ich schaue auf unsere kleine Terrasse. Immer mehr Blätter haben es sich auf dem Boden bequem gemacht. Der Natur ist es egal, dass wir Menschen uns in einer weiteren Corona-Welle befinden. Sie macht einfach in ihrem Rhythmus weiter. Zu Beginn der Corona-Krise habe ich oft überlegt, was geschehen würde, wenn viele der Bevölkerung an dieser Infektion dahinscheiden würden. Wenn ganze Häuserblocks leer stehen würden weil die Bewohner verstorben sind. Im Kamin des seit Jahren unbewohnten Mietshauses nebenan haben sich dauerhaft Elstern eingenistet. Ich denke, unser Edelstahlkamin sollte für die Vögel nicht so interessant sein.

Der gelbe Golf-Caddy der Post ist eben vorgefahren. Vielleicht sollten die nur alle zwei Wochen Pakete und Briefe ausliefern. Rechnungen erhielte man dann später und könnte länger auf irgendwelchen Ärgernisse, wie Bußgeldbescheide und Tariferhöhungen warten. Nach Auslieferungen hätte man sichere 14 Tage und Nächte Ruhe. Auch würde sich die Vorfreude auf das Gekaufte verlängern. Es macht doch keinen Spaß mehr, wenn man mittags bestellt und das Bestellte schon am nächsten Morgen vor der Tür liegt. Das ist wie täglich Weihnachten feiern. Ich empfinde drei Stufen der Freude, wenn ich mir etwas Außergewöhnliches leiste.
1. Die Freude am Suchen. Dieser virtuelle digitale Flohmarkt im Netz, bei dem man sich anonym durch die Verkäufe und Angebote anderer wühlen kann. Wo man unverschämt oder auch nicht runterhandelt. Andere maßregeln kann, dass ihre Preise zu hoch oder der Verkaufsgegenstand in keiner Weise seinem eingestellten Verkaufspreis entspricht. Auf dem Sofa sitzend, bewegungsarm die Welt nach Schnäppchen durchsuchen. Etwas, was riesigen Spaß macht.

  1. Der Bestellvorgang. Diese Ohnmacht, den Zahlvorgang vor Augen oder vor dem Kaufbutton von Ebay oder Amazon sitzend. Den Finger erhoben. Den Finger, der den Kaufvertrag gleich abschließen wird. Dazu die Ängste, Schweiß, erhöhter Puls. Gab es den Artikel tatsächlich nirgendwo billiger? Kommt der gebrauchte Gegenstand auch im beschriebenen Zustand an? Dann beginnt die Schlacht zwischen Käufer, also mir, und dem Verkäufer über Reduzierung des Preises. Ggf. Rückerstattung.
  2. Eintreffen des Gegenstandes. In dieser Phase hat man schon fast die Lust am Gekauften verloren. Inzwischen ist einem eingefallen, dass man das Teil gar nicht mehr benötigt. Dafür etwas anders Wichtiges. Also vor dem Öffnen der Verpackung zurückschicken.
    Am besten sind Käufe im entfernten China. Wenn die Wochen später im heimischen Briefkasten landen, weiß ich oft nicht mehr welchen Quatsch ich bestellt habe. Das ist dann tatsächlich wie Weihnachten. Man hat es sich im Herbst gewünscht, aber bis zum 24.12. schon wieder vergessen. Freude und Lebensqualität 2022.
    Ich habe doch kein Fieber? Ingrid greift an meine Stirn. Nein! Aber warum schreibe ich gerade so viel Blödsinn?
    Mir fällt plötzlich ein, vieles wird doch heute per Mail versandt. Also keine gute Idee, dieses Ausliefern von Post nur alle 14 Tage. Die Post ist … gekommen … hat Briefe gebracht ( nach der Melodie: „Der Mai ist gekommen…“
    Habe heute Nachmittag dreiviertel Stunde geschlafen. Ein echter Nachtschlaf mit Traum und so. Nun fühle ich mich wie nach einer Operation erwacht.

Morgen geht es weiter.